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TITEL<br />
Europas goldene Zukunft<br />
6. KULTUR<br />
Europa ist weniger ein Kontinent denn eine kulturelle<br />
Lebensform – und deren Mission ist noch lange nicht erfüllt<br />
Von CHRISTOPH STÖLZL<br />
Wir sind schon durch ein Dutzend Fürstenthümer,<br />
durch ein halbes Dutzend Großherzogthümer<br />
und durch ein paar Königreiche<br />
gelaufen, und das in der größten Übereilung<br />
in einem halben Tag.“ So ruft es in Georg<br />
Büchners „Leonce und Lena“ der Hofnarr Valerio seinem Prinzen<br />
zu, mit dem er auf romantische Italienreise ausgezogen ist.<br />
Souveränität im Kleinen ist das europäische Urprinzip. Nicht<br />
Flächenstaat und Zentralismus, sondern Pluralismus vieler Majestäten<br />
machte und macht den Reichtum des Kontinents aus,<br />
der nur dem Namen nach einer ist.<br />
Hätten die beiden Wanderer in Büchners Lustspiel in allen<br />
Staaten, die sie so flugs durchquerten, einen Abstecher in die<br />
Theater und Opernhäuser, Philharmonien und Museen, Schlösser<br />
und Parks, Kathedralen und Kapellen gemacht – sie wären bis<br />
heute nicht beim Happy End des Dramas angekommen. Allein<br />
in Deutschland öffnen sich 6250 Museen jährlich <strong>10</strong>6 Millionen<br />
Besuchern, und um die Musikfreunde wetteifern 132 Symphonieorchester<br />
und 82 Opernhäuser. Aber was sollen Statistiken:<br />
Mutatis mutandis sieht es bei unseren Nachbarn ähnlich aus. Wer<br />
Europa durchwandert, der erlebt einen unermesslichen Reichtum<br />
an Ausdrucksformen, an Variationen der Künste auf den<br />
verschiedensten Feldern der Humanität. Elementar ist die Polyfonie<br />
der Kommunikation: Europas Menschen und also auch<br />
Kulturen sprechen viele Sprachen und Dialekte. Die europäische<br />
Seele ist vielsprachig, und sie fühlt und erlebt sich selbst so.<br />
Das alles zusammen nennen wir „Kultur“, und nur Puristen<br />
mokieren sich über die Ungenauigkeit dieses Begriffs, der<br />
das Abstrakte wie die Kunst der Fuge wie das Sinnliche der<br />
Kochkunst umgreifen kann. Seit die antiken Denker Europa<br />
zu definieren begannen, fanden sie, es handle sich vor allem<br />
um eine kulturelle Lebensform. Sie hat bis heute eine erstaunliche<br />
Kontinuität der Schönheitsideale und Gestaltungsprinzipien<br />
bewahrt. Sie ist seit drei Jahrtausenden in einem unendlichen<br />
Selbstgespräch über das Verhältnis von Gut und Böse,<br />
von Schön und Hässlich. Sie hat aus drei radikal verschiedenen<br />
Weltentwürfen, dem griechisch-individualistischen, dem<br />
römisch-rechtlichen und dem jüdisch-christlichen der Nächstenliebe<br />
eine Synthese versucht, die nie vollständig gelungen<br />
ist und darum als Vor-Wurf ewig lebendig bleibt.<br />
Wie sieht es mit der Zukunft aus? Nach Befunden der Uno<br />
lebten im <strong>Jahre</strong> 1900 in Europa 21 Prozent der Weltbevölkerung;<br />
heute sind es weniger als 12 Prozent, und am Ende unseres<br />
Jahrhunderts werden es den Schätzungen zufolge weniger als<br />
4 Prozent sein. Wird Europa zu einer quantité négligeable der<br />
Menschheitsgeschichte? Dazu wird es nicht kommen. Denn<br />
die Mission Europas ist noch lange nicht erfüllt. Die europäische<br />
Doppelformel von forschendem, formendem Menschengeist<br />
und forderndem Menschenrecht ist immer noch auf ihrem<br />
Weg rund um den Globus – selbst verschuldete Rückschläge inbegriffen.<br />
Aber es gibt für uns Europäer keine Alternative dazu.<br />
Wer das Goethe’sche „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“<br />
über Bord wirft und Artikel 5 des Grundgesetzes, der die Freiheit<br />
des Individuums garantiert, sich in allen Formen Gehör zu<br />
verschaffen in der Welt, der ist schon halb verloren.<br />
CHRISTOPH STÖLZL ist Präsident der Hochschule für Musik<br />
Franz Liszt in Weimar. Der Historiker, Jahrgang 1944, war von<br />
2000 bis 2001 Berliner Kultursenator<br />
Illustration: Martin Haake<br />
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<strong>Cicero</strong> – 5. 2014