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Cicero 10 Jahre (Vorschau)

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SALON<br />

Bibliotheksporträt<br />

DENN DIESES ICH<br />

SIND SEHR VIELE<br />

Der Rezitator und Schriftsteller Gert Heidenreich lernte aus<br />

Büchern die Grammatik des Verlusts und der Liebe. In seinem<br />

Haus am Ammersee überwintern Träume<br />

Von EVA GESINE BAUR<br />

Wir haben eine Kanne Tee leer getrunken. Da sagt er mit seinem Gandhi-Lächeln<br />

in die Regale: „Ich war das unheimliche Kind einer unheimlichen<br />

Welt.“ Ein Kind, das während eines Bombenhagels in die Welt geholt<br />

wurde, „von einer mit Branntwein besoffenen Hebamme“. Das mit vier in<br />

der Flüchtlingsvilla im hessischen Großzimmern stand und sagte: „Ich will<br />

nach Afrika.“ Ein Kind, das mit elf seine ersten Theaterstücke schrieb, in<br />

Versen. Ein Kind, das alles Düstere mochte, sich schuld daran fühlte, dass<br />

den Eltern die Liebe abhandengekommen war, und sich zurückzog in Bücherwelten.<br />

Ein unheimisches Kind, ohne Heimat.<br />

Über dem Klappbett hatte er drei Fächer für Bücher. 50 <strong>Jahre</strong> nach seiner<br />

Geburt schrieb Gert Heidenreich „Das Buch ist die Heimat der Phantasie“.<br />

Und 69 <strong>Jahre</strong> nach seiner Geburt eine Erzählung über „Die andere<br />

Heimat“. Nicht seine, sondern die von Regisseur Edgar Reitz, mit dem er<br />

das Drehbuch des gleichnamigen Filmes über ein Dorf im Hunsrück schrieb.<br />

Beide erhielten den Bayerischen Filmpreis 2014.<br />

Die Bibliothek im zugewucherten Haus ist kühl. Seit 30 <strong>Jahre</strong>n lebt Heidenreich<br />

hier im Hinterland des Ammersees in Oberbayern. Vier Wochen<br />

war das Haus unbewohnt. In der Nacht ist er aus dem Urlaub zurückgekehrt,<br />

den er mit Frau und Sohn dort im eigenen Haus verbracht hat.<br />

Zuletzt hat er also am Drehbuch eines Spielfilms mitgearbeitet. „Es war<br />

ein neues und heftiges Erlebnis“, sagt er. Die einzige Erscheinungsform von<br />

Sprache, die er noch nicht ausprobiert hatte. Die anderen übte er so intensiv,<br />

dass jeder meint, er müsse jeweils nur darin zu Hause sein. „Die meisten<br />

halten mich für viele“, sagt er. Die meisten kriegen nicht zusammen, dass<br />

es da einen Journalisten und einen Dramatiker, einen Essayisten und einen<br />

Romancier, einen fabelhaften Sprecher, einen Lyriker und einen Krimiautor<br />

gibt, die alle Gert Heidenreich heißen, alle 1944 in Eberswalde geboren<br />

worden sind. Und zweieinhalb Meter im Bücherregal füllen.<br />

Fichtenholzregale bis unter den Giebel. Die Bücher lax geordnet. „Nur<br />

nach Anfangsbuchstaben. Horvath kann vor Hegel stehen. Aber ich finde alles.“<br />

Über dem Fenster hängen selbst gemalte Bilder. Auf dem Tisch liegen<br />

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<strong>Cicero</strong> – 5. 2014

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