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WELTBÜHNE<br />
Analyse<br />
Zustand der politischen, sozialen und<br />
wirtschaftlichen Starre. Verfall, Armut<br />
und Korruption dieser immer autoritäreren<br />
Regime brachten nichts Langlebigeres<br />
als den Aufstieg des islamischen<br />
Fundamentalismus hervor.<br />
Die Region glich immer schon einem<br />
Pulverfass – die Verantwortung für die<br />
Explosion aber hat stets derjenige, der<br />
die Lunte zündet. In diesem Fall die Regierung<br />
von George W. Bush. Zu Recht<br />
wird ihr vorgeworfen, die Dämonen und<br />
die aufgestaute Wut in der Region entfesselt<br />
zu haben. Der Irakkrieg ist ein Katalysator<br />
für fast alles gewesen, was danach<br />
geschah. So tragisch dieser Krieg auch<br />
war, der Friede wirkte fast genauso destabilisierend.<br />
Indem die USA die Schiiten<br />
im Irak stärkten und die Sunniten von<br />
der Macht ausschlossen, sorgten sie unbeabsichtigt<br />
dafür, dass diese alte Feindschaft<br />
Bestandteil der Zukunft des Landes<br />
bleiben wird. Inzwischen sind mehr<br />
als zwei Millionen Iraker – überwiegend<br />
Sunniten und Christen – wegen der Unterdrückung<br />
durch die Schiiten und aus<br />
Angst vor der immer autoritäreren Regierung<br />
von Premierminister Nouri al Maliki<br />
aus dem Land geflohen.<br />
Nach der Rücksichtslosigkeit der<br />
Bush-Regierung waren die Amerikaner,<br />
und nicht nur die, erleichtert über<br />
die wohlüberlegte Umsicht von Barack<br />
Obama. Zwar war Bushs Nachfolger nicht<br />
gerade zimperlich, was den Einsatz von<br />
Gewalt angeht – man denke nur an den<br />
enormen Anstieg der Drohnenangriffe<br />
oder an das waghalsige Kommando zur<br />
Tötung Osama bin Ladens in seinem pakistanischen<br />
Versteck. Aber wenn es um<br />
die Entsendung amerikanischer Soldaten<br />
geht, hat Obama die Grenzen jedes Einsatzes<br />
so eng wie möglich gesteckt. Der<br />
Präsident zeigt die Umsicht eines Juristen,<br />
er betreibt eine wohlkalkulierte Außenpolitik.<br />
Die Kosten politischer Entscheidungen<br />
wägt er vorsichtig ab gegen<br />
die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs.<br />
Das mag auf den ersten Blick vernünftig<br />
klingen. Wenn wir aber den Preis<br />
von Obamas Vorsicht ignorieren, erliegen<br />
wir einer fatalen Selbsttäuschung.<br />
Seine Regierung hat beschlossen, die Geschehnisse<br />
in Syrien als einen humanitären<br />
Albtraum zu betrachten – und nicht<br />
als einen entscheidenden strategischen<br />
Wendepunkt für den Nahen Osten. Die<br />
Berater des Präsidenten haben die Wahrscheinlichkeit<br />
heruntergespielt, dass sich<br />
die Gewalt über die syrischen Landesgrenzen<br />
hinaus ausbreiten könnte. Hat<br />
man aber das Morden und das Chaos erst<br />
einmal als humanitäre Katastrophe definiert,<br />
ist es für einen realistischen Präsidenten<br />
viel leichter, eine Intervention<br />
zu vermeiden.<br />
DAS WEISSE HAUS hält die Geschehnisse<br />
zwar für schrecklich und bedauernswert,<br />
sieht aber kein strategisches Interesse an<br />
einem Eingreifen. Bis auf einen Moment,<br />
als Obama aufgrund Baschar al Assads<br />
Einsatz von Chemiewaffen über einen<br />
militärischen Vergeltungsschlag nachdachte,<br />
hat der US-Präsident zu keiner<br />
Zeit vorgehabt, den syrischen Staatschef<br />
zu stürzen oder auch nur irgendetwas zu<br />
unternehmen, um das Abschlachten zu<br />
beenden.<br />
Die Obama-Regierung hat den Preis<br />
des Nichteingreifens wissentlich ignoriert.<br />
Das Argument, das Massensterben<br />
in Syrien werde keine gravierenden strategischen<br />
Folgen haben, war von Anfang<br />
an unsinnig. Unabhängig davon, ob Assad<br />
stürzt oder nicht, befeuert das syrische<br />
Chaos Konflikte und Instabilität im<br />
gesamten Nahen Osten.<br />
Syrien ist zu einem Ort geworden,<br />
an dem Terroristen und Dschihadisten<br />
sich neu sammeln; sie rekrutieren, bilden<br />
aus und planen künftige Anschläge.<br />
Wegen seiner geografischen Lage, der politischen<br />
Allianzen und konfessionellen<br />
Zersplitterung war Syrien schon immer<br />
ein Dreh- und Angelpunkt des Nahen Ostens.<br />
Wir erleben gerade, was es heißt,<br />
diesen Schlüsselstaat zu verlieren.<br />
Die Aussichten für den Nahen Osten<br />
waren lange nicht mehr so düster. Es gibt<br />
keinerlei Anzeichen für eine Entspannung<br />
der katastrophalen Lage in Syrien.<br />
Mit der Aussicht auf einen langen und<br />
blutigen Stellungskrieg steigt die Wahrscheinlichkeit,<br />
dass auch andere Länder<br />
zum Kriegsschauplatz werden. Die radikalen<br />
Aufständischen, die auf Syriens<br />
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<strong>Cicero</strong> – 5. 2014