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Eines haben die digitalen Euphoriker<br />
allerdings geschafft. Sie haben die<br />
Kollegen vom Print dermaßen verunsichert,<br />
dass die selber nicht mehr an ihre<br />
Zukunft glauben.<br />
Ich darf zitieren: „Um eine Verzettelung<br />
und eine Überforderung zu vermeiden,<br />
sind eine strategisch konsistente Positionierung<br />
im Markt, eine entsprechende<br />
Fokussierung auf die Kernstärken einer<br />
Marke und eine sorgsam vorgenommene<br />
Angebotsentwicklung unabdingbar.“<br />
Wer schreibt denn so? Ein Berater<br />
von McKinsey? Ein Marketingchef eines<br />
digitalen Multis? Viel schlimmer: Es<br />
ist ein Journalist! Die „strategisch konsistente<br />
Positionierung und die sorgsam<br />
vorzunehmende Angebotsentwicklung“<br />
stammt aus der Feder eines Chefredakteurs<br />
einer großen, renommierten<br />
Zeitung.<br />
So weit vom Journalismus verabschiedet<br />
hat sich der Journalist selbst.<br />
Er schreibt wie ein Unternehmensberater,<br />
und das folgerichtig unter dem Titel<br />
„Die Zeitung spürt den Herbst“. Wie ein<br />
vorzeitig gealterter Mensch, resigniert<br />
bis ins Knochenmark, beerdigt hier einer<br />
sein ureigenes Produkt, indem er betont,<br />
„dass es gilt, dem Unabwendbaren<br />
ins Auge zu sehen“. Unabwendbar? Faktum!<br />
Aus! Beschlossen! Für mich ist das<br />
einzig Unabwendbare zurzeit die Tatsache,<br />
dass ich schlicht nicht weiß, was in<br />
den nächsten <strong>Jahre</strong>n und Jahrzehnten<br />
passieren wird. Ich habe Ahnungen, es<br />
gibt Szenarien, ich höre Meinungen und<br />
ich sehe Möglichkeiten. Aber gesichertes<br />
Wissen?<br />
Ein bisschen Hoffnung kommt immerhin<br />
aus Hollywood. Im Film „State<br />
of Play“ sind der Starreporter Cal<br />
McAffrey alias Russel Crowe und die<br />
Gedrucktes<br />
muss die<br />
Prüfung der<br />
Zeit bestehen.<br />
Es ist meist<br />
Resultat eines<br />
langen<br />
Prozesses<br />
Onlinejournalistin Della Frye alias Rachel<br />
McAdams einer Skandalgeschichte<br />
auf der Spur. Als der Enthüllungsspezialist<br />
aus der Printwelt zu seiner Onlinekollegin<br />
sagt: „Ich dachte, du bist längst<br />
unten und haust in deine Bloggertasten“,<br />
meint diese: „Bei so einer großen Geschichte<br />
sollten die Leute schon Druckerschwärze<br />
unter den Fingern haben, wenn<br />
sie es lesen. Findest du nicht?“<br />
Selbstverständlich können Sie mir<br />
jetzt vorwerfen, dass ich einen Film zitiere,<br />
der 2009 produziert wurde, als es<br />
möglicherweise noch eine kleine Hoffnung<br />
für Print gab. Aber die nächste<br />
Medienerfahrung, die ich anfüge, hat<br />
sich erst vor kurzer Zeit ereignet. Und<br />
sie stammt nicht aus der virtuellen Welt<br />
von Hollywood, sondern aus der Realität<br />
zwölfjähriger Schüler in Zürich.<br />
Das Schulamt der Stadt Zürich organisiert<br />
dreimal jährlich einen Kurs, in<br />
dem Kinder bis zwölf <strong>Jahre</strong> die Zeitung<br />
Flip Flop erarbeiten. Wie bei allen Zeitungen<br />
schaffen es nicht alle Artikel ins<br />
Blatt. „Wenn ich den Kindern dann jeweils<br />
vorschlage, einen Teil der Artikel<br />
online zu publizieren, sind sie mächtig<br />
enttäuscht“, sagt die Journalistin, die<br />
den Kurs begleitet: „Ihnen fehlt die Magie,<br />
dass ihre Artikel 15 000 Mal auf Papier<br />
existieren.“ Online zu erscheinen, ist<br />
offenbar auch heute bei den ganz Jungen<br />
noch nicht richtig cool. Oder ist es mehr?<br />
Woher kommt dieses Gefühl, dass<br />
auf Papier Gedrucktes „mehr wert“ sei?<br />
Vielleicht, weil Gedrucktes die Prüfung<br />
der Zeit bestehen muss. Es steht<br />
„schwarz auf weiß“, meint unauslöschlich,<br />
gesagt ist gesagt. Es meint Wertigkeit.<br />
Gedrucktes ist meistens das Resultat<br />
eines langen Prozesses von der Idee<br />
über die Recherche, von der Schreibe<br />
über das Gegenlesen bis zum Korrektorat.<br />
Erst dann wird „publiziert“. Und es<br />
bleibt fassbar, verschwindet nicht in der<br />
„Cloud“, dieser digitalen Wolke, genauso<br />
wenig fassbar wie die echte Wolke oben<br />
am Himmel.<br />
Außer zwölfjährigen Zürchern und<br />
amerikanischen Schauspielern scheint allerdings<br />
niemand mehr an eine Zukunft<br />
des Gedruckten zu glauben. Vor allem<br />
nicht die Journalisten traditioneller Medienhäuser.<br />
Aber auch für diese Situation<br />
habe ich eine Lebenserfahrung gemacht.<br />
Lineare Strategien eines Unternehmens<br />
führen zwangsläufig in die Sackgasse.<br />
Lineare Euphorie meistens in die Pleite.<br />
Deshalb möchte ich hier an den Lieblingssatz<br />
meiner Frau erinnern. Er stammt von<br />
Francis Picabia, einem der bedeutendsten<br />
Künstler zu Beginn des 20. Jahrhunderts:<br />
„Der Kopf ist rund, damit das Denken die<br />
Richtung wechseln kann.“<br />
MICHAEL RINGIER ist Verleger und<br />
Herausgeber von <strong>Cicero</strong><br />
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Es kann jeden treffen: Wer unschuldig in Haft gerät, geht durch<br />
die Hölle. Jan Schmitt rollt spektakuläre Kriminalfälle auf, lässt<br />
sie durch Prozessakten und Aussagen noch einmal lebendig<br />
werden. Der Überlebenskampf von Menschen, die nie straffällig<br />
geworden sind, liest sich spannend wie ein Krimi und gibt den<br />
Blick frei in das Innerste unserer Justiz – in ein oftmals intransparentes<br />
System mit vielen Schattenseiten.<br />
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Jan Schmitt<br />
UNSCHULDIG IN HAFT<br />
Wenn der Staat zum Täter wird<br />
Mit einem Vorwort von Sonia Mikich<br />
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ISBN 978-3-579-07068-1<br />
*empf. Verkaufspreis