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die neuen CDs mit Endes „Momo“, daneben das „Heimat“-Buch. Doch ihr<br />
Macher sagt: „Ich bin aus der Zeit geraten. Wie Jakob, der Träumer.“ Die<br />
Hauptfigur des Reitz-Filmes. Anders als dessen Bruder, der Tatendurstige,<br />
lebt Jakob nur in seiner Fantasie und seinen Büchern. „Ohne Träume“, sagt<br />
Heidenreich, „kann der Mensch nicht leben. Er muss wissen, wie Hoffnung<br />
geht.“<br />
Früh lernte das Flüchtlingskind, wohin es fliehen konnte. Er lernte es<br />
von seiner Lehrerin in der Volksschule, Fräulein Ott, „weißer Knoten, weißer<br />
Schnurrbart und glühend begeistert fürs Buch“. Und von seiner Mutter,<br />
einer Lehrerin für Deutsch, Biologie und Religion. „Die hat im Gymnasium<br />
den Urfaust inszeniert.“ Später die „Antigone“ des Sophokles. „Nur in der<br />
Literatur wird die Erfahrung der Menschheit bewahrt. Nur das Lesen bereitet<br />
vor auf Verlust und Liebe, auf Angst und Neid“, sagt Heidenreich.<br />
Gert, der Träumer, entführte schon als Gymnasiast in Darmstadt andere<br />
in seine Reiche. „Wenn ich Goethes ‚Prometheus‘ vorgetragen habe, haben<br />
die anderen gesagt: Der kann das so, dass du glaubst, er wäre Prometheus.“<br />
Mit der Wirklichkeit ist der Träumer oft kollidiert. Durch die Aufnahmeprüfung<br />
zur Sprecherausbildung fiel er durch. Dass er dennoch zu einem<br />
der begehrtesten Sprecher im Lande wurde, verdanke er Robert Michal<br />
beim Bayerischen Rundfunk. Beim ersten Lesen nach hartem Training unterbrach<br />
ihn Michal, bevor er ein Wort gesprochen hatte. „Aber ich habe<br />
doch noch gar nichts gesagt“, protestierte Gert Heidenreich. „Du hast falsch<br />
geatmet.“ Sprechen ist Kunst, die Schwerstarbeit erfordert, damit sie leicht<br />
daherkommt. Vier Wochen hat er sich vorbereitet, Ecos „Der Name der<br />
Rose“ einzulesen. Und dann in zehn Tagen eingespielt, in denen er lebte<br />
„wie ein Hochleistungssportler“.<br />
Später flog er beim BR hinaus, als ein williger Aufräumer entfernte,<br />
was Franz Josef Strauß „rote Giftspritzer“ nannte. Damals, Ende der Siebziger,<br />
hatte er sich längst daran gewöhnt, an keinem Ort heimisch zu sein.<br />
Auch wenn das Schicksal ihn dazu nötigen will. „Ich bin einen Tag nach<br />
dem Abitur aus Darmstadt abgehauen. Aber als PEN-Präsident musste ich<br />
ständig wieder dorthin. Da wurde es mir immer fremder.“ Im Jahr 2000 erschienen<br />
Erzählungen von ihm unter dem Titel: „Der Mann, der nicht ankommen<br />
konnte“. Dass der Mann dahinter es nimmermüde versucht, macht<br />
Gert Heidenreichs Bücher zu einer Weltreise für seine Leser.<br />
Er führt sie in die Nähe seines normannischen Hauses in „Die Steinesammlerin<br />
von Etretat“, führt sie durch sein Paris, sein München in „Abschied<br />
von Newton“, führt in seine innere Heimat, in der er schweigsam<br />
lebte nach dem Tod seines 17-jährigen Sohnes Johannes, mit den Gedichten<br />
„Im Augenlicht“. In seinem Wüstenroman „Belial oder die Stille“ landete<br />
er dort, wo er mit vier <strong>Jahre</strong>n hingewollt hatte, Afrika.<br />
Auf dem Tisch liegt sein Tablet, ohne das er nicht reist. „Der ganze Hölderlin<br />
drauf und der ganze Rilke.“ Heimat, tragbar.<br />
EVA GESINE BAUR hat soeben „Mozart. Genius und Eros“ ( Beck ) veröffentlicht<br />
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<strong>Cicero</strong> – 5. 2014<br />
Foto: Dirk Bruniecki für <strong>Cicero</strong>