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Schriftliche Stellungnahmen von Verbänden und ...

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Ausschuss für Arbeit <strong>und</strong> Soziales Ausschussdrucksache 16(11)538<br />

b) Sachliche Rechtfertigung<br />

Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ist<br />

nicht im Sinne einer umfassenden, absoluten Gleichbehandlung<br />

unter Nivellierung aller in den Individuen<br />

begründeten Unterschiede zu verstehen. Vielmehr ist der<br />

allgemeine Gleichheitssatz als Verbot <strong>von</strong> Ungleichbehandlungen<br />

ohne sachlichen Gr<strong>und</strong>, also prinzipiell als<br />

ein Verbot staatlicher „Willkür“ zu begreifen. Eine Ungleichbehandlung<br />

<strong>von</strong> wesentlich Gleichem führt dementsprechend<br />

nur dann zu einem Verstoß gegen Art. 3<br />

Abs. 1 GG, wenn sie ohne sachlichen Gr<strong>und</strong>, also „willkürlich“<br />

erfolgt; das Vorliegen eines sachlichen Gr<strong>und</strong>es<br />

kann eine an Art. 3 Abs. 1 GG zu messende Ungleichbehandlung<br />

also rechtfertigen.<br />

Nach der vom B<strong>und</strong>esverfassungsgericht in gefestigter<br />

Rechtsprechung angewandten so genannten „neuen Formel“<br />

ist die Prüfung der sachlichen Rechtfertigung an<br />

Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten auszurichten. Hiernach<br />

ist Art. 3 Abs. 1 GG „vor allem dann verletzt, wenn<br />

eine Gruppe <strong>von</strong> Normadressaten im Vergleich zu anderen<br />

Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen<br />

beiden Gruppen keine Unterschiede <strong>von</strong> solcher<br />

Art <strong>und</strong> solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche<br />

Behandlung rechtfertigen könnten“ (BVerfGE 55, 72<br />

[88]; vgl. auch BVerfGE 107, 133 [141]). Eine Rechtfertigung<br />

ist nur möglich, wenn Ungleichbehandlung <strong>und</strong><br />

rechtfertigender Gr<strong>und</strong> „in einem angemessenen Verhältnis<br />

zueinander stehen“ (BVerfGE 82, 126 [146] m.<br />

w. N.). Folglich muss mit der Ungleichbehandlung ein<br />

legitimer Zweck verfolgt werden <strong>und</strong> diese zu dessen<br />

Erreichung auch geeignet sein. Ferner muss die Ungleichbehandlung<br />

erforderlich sein, d. h. es dürfen –<br />

unter gebührender Berücksichtigung gesetzgeberischer<br />

Entscheidungs- <strong>und</strong> Gestaltungsspielräume – keine weniger<br />

einschneidenden Maßnahmen zur Verfügung stehen<br />

(vgl. BVerfGE 91, 389 [403 f.]; 103, 225 [235 ff.]).<br />

Schließlich ist zu überprüfen, ob Ungleichbehandlung<br />

<strong>und</strong> rechtfertigender Gr<strong>und</strong> in einem angemessenen<br />

Verhältnis zueinander stehen.<br />

Die Fraktionen der CDU/CSU <strong>und</strong> SPD verfolgen mit<br />

der geplanten Ausnahmeregelung sozialpolitisch durchaus<br />

wünschenswerte <strong>und</strong> legitime Ziele. Nach der Begründung<br />

zum Gesetzentwurf sollen „Versicherte mit<br />

außerordentlich langjähriger – nicht selten belastender –<br />

Berufstätigkeit <strong>und</strong> entsprechend langer Zahlung <strong>von</strong><br />

Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung [...] privilegiert“<br />

werden (BT-Drucks. 16/3794, S. 28). Die Regelung<br />

soll also die hart Arbeitenden belohnen. Elemente<br />

des sozialen Ausgleichs sind der Sozialversicherung seit<br />

jeher eigen (siehe BVerfGE 9, 124 [133]; 10, 141 [166];<br />

11, 105 [114]; 48, 346 [358]; 76, 246 [301]; 88, 203<br />

[313]).<br />

Ob sich die Ausnahmeregelung jedoch zur Erfüllung<br />

dieses Zwecks als geeignet erweist, ist sehr zweifelhaft.<br />

Der Sozialbeirat wies in diesem Zusammenhang zutreffend<br />

daraufhin, dass unterbrochene Versichertenbiographien<br />

nicht nur durch temporäre Erwerbslosigkeit, sondern<br />

auch durch eine zeitweise Tätigkeit in nicht versicherungspflichtigen<br />

Berufen zustande kommen. Dies<br />

betrifft vor allem Versicherte, die für einen begrenzten<br />

Zeitraum in kammerpflichtigen Berufen oder als Selbständige<br />

tätig waren (Gutachten des Sozialbeirats zum<br />

Rentenversicherungsbericht 2006, BT-Drucks. 16/3700,<br />

S. 83). Auch diese Berufsgruppen haben regelmäßig eine<br />

nicht unerhebliche Arbeitsbelastung zu schultern. Dennoch<br />

werden sie gegenüber den Arbeitern <strong>und</strong> Angestellten<br />

durch die geplante Neuregelung im Hinblick auf ihre<br />

Ansprüche <strong>und</strong> Anwartschaften aus der gesetzlichen<br />

Rentenversicherung benachteiligt. Dieser Benachteiligung<br />

können diese Versicherten selbst durch eine freiwillige<br />

(Weiter)versicherung nicht entgehen, denn § 51 Abs.<br />

3a Satz 1 Nr. 1 SGB VI n. F. berücksichtigt nur Pflichtbeitragszeiten.<br />

Im Ergebnis belohnt die Ausnahmeregelung<br />

also nicht etwa ein besonders langes Arbeitsleben,<br />

sondern lediglich die Treue zur gesetzlichen Rentenversicherung<br />

<strong>und</strong> dies auch nur im Rahmen der Versicherungspflicht.<br />

Zudem handelt es sich bei solchen Versicherten, die mit<br />

der Vollendung des 65. Lebensjahres bereits 45 Versicherungsjahre<br />

vorweisen können, regelmäßig nicht etwa<br />

um die herkömmlichen Arbeitnehmer/innen, die in der<br />

Privatwirtschaft tätig sind, sondern typischerweise um<br />

die Angestellten des öffentlichen Dienstes, die regelmäßig<br />

Arbeitslosigkeit nicht fürchten müssen (vgl. Antrag<br />

der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, weiterer<br />

Abgeordneter <strong>und</strong> der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen,<br />

Neue Kultur der Altersarbeit – Anpassung der gesetzlichen<br />

Rentenversicherung an längere Rentenlaufzeiten,<br />

BT-Drucks. 16/3812, S. 3 f.; Stellungnahme der Deutschen<br />

Rentenversicherung B<strong>und</strong> zum RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz,<br />

2007, S. 10). Die Beschäftigung im<br />

öffentlichen Dienst gehört zudem in vielen Fällen nicht<br />

zu den belastungsintensivsten Berufen. Tritt jemand im<br />

Alter <strong>von</strong> 18 Jahren in das Berufsleben ein, so darf er bis<br />

zur Vollendung seines 65. Lebensjahres insgesamt nicht<br />

mehr als 24 Monate arbeitslos sein, um vollständig in den<br />

Genuss der Ausnahmeregelung des § 38 SGB VI n. F. zu<br />

kommen. Für viele Arbeitnehmer etwa in der Baubranche<br />

dürfte dies ausgeschlossen sein, da dort zahlreiche Arbeitsverhältnisse<br />

in den Wintermonaten unterbrochen<br />

werden.<br />

Die Regelung des § 38 SGB VI n. F. ist ferner nicht zum<br />

besonderen Schutz Versicherter mit außerordentlich<br />

belastender Berufstätigkeit erforderlich. Bereits nach der<br />

derzeit geltenden Rechtslage werden solche Versicherten<br />

ausreichend geschützt: Führt die Arbeitsbelastung zu<br />

einer Einschränkung der Erwerbsfähigkeit des Versicherten,<br />

so kann er nach §§ 43 <strong>und</strong> 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3<br />

SGB VI mit Vollendung des 63. Lebensjahres abschlagsfrei<br />

eine Erwerbsminderungsrente in Anspruch nehmen<br />

(vgl. Stellungnahme der Deutschen Rentenversicherung<br />

B<strong>und</strong> zum RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz, 2007,<br />

S. 10).<br />

Jedenfalls scheitert das Gesetzesvorhaben am Angemessenheitskriterium.<br />

Wie bereits dargelegt, verfehlt die<br />

Ausnahmeregelung weitestgehend ihren Zweck. Der<br />

gesetzgeberischen Motivation kann daher bei der Abwägung<br />

mit den Nachteilen, welche die Regelung anderen<br />

Versicherten bereitet, nur wenig Gewicht beigemessen<br />

werden. Auf der anderen Seite belastet die abschlagsfreie<br />

Rente ab 65 für besonders langjährig Versicherte die<br />

Rentenkassen erheblich. Der Sozialbeirat geht da<strong>von</strong> aus,<br />

dass die Regelung im Jahr 2030 allein 2 Mrd. Euro<br />

Mehrausgaben verursachen würde. Dadurch wäre die<br />

Bremswirkung der gr<strong>und</strong>sätzlichen Verkürzung der Rentenbezugsdauer<br />

durch das RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz<br />

auf die Entwicklung des Beitragssatzes in der<br />

gesetzlichen Rentenversicherung um 0,2 Prozentpunkte<br />

gesenkt. Dem Sozialbeirat zufolge entspricht dies einem<br />

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