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Schriftliche Stellungnahmen von Verbänden und ...

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Ausschussdrucksache 16(11)538<br />

Ausschuss für Arbeit <strong>und</strong> Soziales<br />

Viertel der mit der Reduzierung der Rentenbezugsdauer<br />

möglichen finanziellen Entlastung der gesetzlichen Rentenversicherung<br />

(Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht<br />

2006, BT-Drucks. 16/3700,<br />

S. 82; vgl. ferner Kalamkas Kaldybajewa/Reinhold Thiede,<br />

Abschlagsfreier vorzeitiger Rentenbeginn für langjährig<br />

Versicherte?, DAngVers 2004, S. 497 [502]).<br />

Die finanziellen Belastungen hätten die Beitragszahler<br />

<strong>und</strong> solche Versicherten zu tragen, denen der Renteneintritt<br />

mit der Vollendung des 65. Lebensjahres verwehrt<br />

bliebe: Versicherte, die zeitweise kammerpflichtigen<br />

Berufen oder einer selbständigen Tätigkeit nachgegangen<br />

sind, ferner Versicherte, die besonders lange Ausbildungen<br />

absolvieren mussten, also insbesondere solche mit<br />

Hochschulabschluss (denn Zeiten der Ausbildung werden<br />

bei der Berechnung der Wartezeit nach § 51 Abs. 3a Satz<br />

1 Nr. 1 SGB VI n. F. nicht berücksichtigt, da es sich<br />

insoweit um Anrechnungszeiten nach § 58 Abs. 1 Satz 1<br />

Nr. 4 SGB VI handelt), <strong>und</strong> nicht zuletzt Versicherte, die<br />

in unsicheren Arbeitsmärkten tätig sind (vgl. Herbert<br />

Rische, Aktuelle Reformdikussionen in der gesetzlichen<br />

Rentenversicherung, DRV 2006, S. 670 [674]). § 51<br />

Abs. 3a Satz 1 Nr. 1 SGB VI n. F. nimmt ausdrücklich<br />

Pflichtbeitragszeiten, in denen Versicherte Arbeitslosengeld<br />

bzw. Arbeitslosengeld II bezogen, <strong>von</strong> der Berücksichtigung<br />

als Wartezeit aus, obwohl zu Gunsten der<br />

Versicherten auch in diesen Zeiten Beiträge <strong>von</strong> den<br />

zuständigen Leistungsträgern bzw. durch den B<strong>und</strong> gezahlt<br />

werden (§ 170 Abs. 1 Nr. 1 <strong>und</strong> 2 Buchst. b SGB<br />

VI). Arbeitslosigkeit trifft Arbeitnehmer/innen in vielen<br />

Fällen unverschuldet. Dennoch belohnt das Gesetzesvorhaben<br />

nur Arbeitnehmer/innen in sicheren Arbeitsmärkten,<br />

insbesondere im öffentlichen Dienst, d. h. nur (selektiv)<br />

Leistung, jedoch nicht auch Leistungsbereitschaft.<br />

Insgesamt stellt die Ausnahmevorschrift des § 38 SGB<br />

VI n. F. solche Versicherte besser, die aufgr<strong>und</strong> ihrer<br />

lückenlosen Versichertenbiographie ohnehin über verhältnismäßig<br />

hohe Rentenansprüche verfügen. Deren<br />

besondere soziale Schutzbedürftigkeit ist jedoch äußerst<br />

zweifelhaft.<br />

3. Zur mittelbaren Diskriminierung <strong>von</strong> Frauen<br />

Jedenfalls verfassungsrechtlich bedenklich erweist sich<br />

das Gesetzesvorhaben unter dem Gesichtspunkt der<br />

Gleichbehandlung der Geschlechter. Art. 3 Abs. 2 <strong>und</strong> 3<br />

GG enthalten spezielle Gleichheitssätze, die im Rahmen<br />

ihrer Anwendungsbereiche dem allgemeinen Gleichheitssatz<br />

des Art. 3 Abs. 1 GG vorgehen. Sie verbieten Ungleichbehandlungen<br />

aufgr<strong>und</strong> der speziellen, in ihnen<br />

genannten Merkmale (Geschlecht, Abstammung, Rasse<br />

etc.). Ihre besondere Bedeutung gegenüber dem allgemeinen<br />

Gleichheitssatz besteht vor allem darin, dass<br />

Ungleichbehandlungen aufgr<strong>und</strong> der in ihnen aufgeführten<br />

Merkmale zumindest im Gr<strong>und</strong>satz gerade nicht<br />

durch einen „sachlichen Gr<strong>und</strong>“ gerechtfertigt werden<br />

können. Die speziellen Gleichheitssätze verbieten jedenfalls<br />

die finale, d. h. die ziel- <strong>und</strong> zweckgerichtet auf<br />

eines der betreffenden Merkmale bezogene Diskriminierung<br />

bzw. Privilegierung, nach überwiegender Ansicht<br />

überdies jede Ungleichbehandlung, welche kausal an<br />

eines der betreffenden Merkmale anknüpft, auch wenn<br />

die Maßnahme in erster Linie andere Ziele verfolgt<br />

(BVerfGE 85, 191 [206 f.]; 97, 35 [43]; vgl. auch<br />

BVerfGE 89, 276 [288 f.]; anders [nur finale Diskriminierung]<br />

noch BVerfGE 75, 40 [70]).<br />

Art. 3 Abs. 3 Satz 1 Var. 1 GG verbietet ausdrücklich<br />

Ungleichbehandlungen aufgr<strong>und</strong> des Geschlechts, statuiert<br />

also ein diesbezügliches Diskriminierungs- <strong>und</strong> Privilegierungsverbot<br />

sowie ein entsprechendes Abwehrrecht.<br />

Erfasst werden auch so genannte mittelbare (indirekte)<br />

Diskriminierungen, d. h. Regelungen, welche zwar geschlechtsneutral<br />

formuliert sind, aber aufgr<strong>und</strong> natürlicher<br />

oder gesellschaftlicher Unterschiede überwiegend<br />

nur ein Geschlecht betreffen (BVerfGE 104, 373 [393];<br />

vgl. auch BVerfGE 97, 35 [43] m. w. N). Über verfassungsimmanente<br />

Rechtfertigungen hinaus können geschlechtsspezifische<br />

Ungleichbehandlungen nur dann<br />

zulässig sein, „soweit sie zur Lösung <strong>von</strong> Problemen, die<br />

ihrer Natur nach nur entweder bei Männern oder bei<br />

Frauen auftreten können, zwingend erforderlich sind“<br />

(BVerfGE 85, 191 [207]; vgl. auch BVerfGE 92, 91<br />

[109]). Daraus folgt, dass allein biologisch begründete<br />

Unterschiede zwischen den Geschlechtern Berücksichtigung<br />

finden dürfen, nicht auch rein „funktionale“, welche<br />

aus traditionellen Rollenverständnissen resultieren.<br />

Deren Verfestigung soll insbesondere Art. 3 Abs. 2 Satz<br />

2 GG entgegen wirken: Danach fördert der Staat die<br />

tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung <strong>von</strong><br />

Frauen <strong>und</strong> Männern <strong>und</strong> wirkt auf die Beseitigung bestehender<br />

Nachteile ein.<br />

Die Ausnahmeregelung des § 38 SGB VI n. F. stellt nicht<br />

auf das Geschlecht der Versicherten ab. Eine unmittelbare<br />

Diskriminierung <strong>von</strong> Frauen liegt daher nicht vor.<br />

Auch ist dem Gesetzgeber nicht die Absicht zu unterstellen,<br />

mit der abschlagsfreien Rente für besonders langjährig<br />

Versicherte Frauen zu diskriminieren. Jedoch lässt<br />

eine Auswertung der Deutschen Rentenversicherung<br />

B<strong>und</strong> darauf schließen, dass vor allem Männer <strong>von</strong> der<br />

Ausnahmeregelung profitieren werden. Datengr<strong>und</strong>lage<br />

der Auswertung waren die Rentenzugangsdaten des<br />

Jahres 2004 sowie die Sondererhebungen Vollendete<br />

Versichertenleben (VVL) desselben Jahres. Im Jahre<br />

2004 hätten danach 33,13 % der männlichen, aber nur<br />

10,99 % der weiblichen Versicherten bei Renteneintritt<br />

45 Versicherungsjahre im Sinne des § 51 Abs. 3a SGB<br />

VI n. F. vorweisen können (Kalamkas Kaldybajewa/Edgar<br />

Kruse, Eine neue vorgezogene, abschlagsfreie<br />

Altersrente für besonders langjährig Versicherte mit 45<br />

„Versicherungsjahren“?, RVAktuell 2006, S. 434 [443]).<br />

Dabei ist zu beachten, dass der Gesetzentwurf zu den auf<br />

die Wartezeit anzurechnenden Versicherungszeiten sogar<br />

die Berücksichtigungszeiten, also die ersten zehn Jahre<br />

der Kindererziehung, § 57 Satz 1 SGB VI, zählt (§ 51<br />

Abs. 3a Satz 1 Nr. 2 SGB VI n. F.). Das geschlechtsspezifische<br />

Missverhältnis wird daher zum Teil gemildert.<br />

Keine Berücksichtigung finden jedoch weiterhin die<br />

Erziehungsleistungen derjenigen Mütter, die ihre Kinder<br />

auch über das zehnte Lebensjahr hinaus betreuen. Dasselbe<br />

gilt für Zeiten, in denen wegen Schwangerschaft<br />

oder Mutterschaft während der Schutzfristen nach dem<br />

Mutterschutzgesetz eine versicherte Beschäftigung oder<br />

selbständige Tätigkeit nicht ausgeübt wird. Denn insoweit<br />

handelt es sich lediglich um Anrechnungszeiten im<br />

Sinne des § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI, d. h. nicht<br />

um Pflichtbeitragszeiten, sondern um beitragsfreie Zeiten<br />

gemäß § 54 Abs. 4 SGB VI.<br />

Dieser Bef<strong>und</strong> erscheint auch <strong>und</strong> gerade vor dem Hintergr<strong>und</strong><br />

der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts<br />

bedenklich. In einem der am 3. April 2001 verkündeten<br />

Urteile zur Pflegeversicherung nahm das B<strong>und</strong>es-<br />

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