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UNDERDOG 62

Schwerpunkt: Punk und Politik – Protest, Parolen und Provokation Unser Schwerpunkt beleuchtet die politischen Komponenten im Punk. Die unterschiedlichen Lebensstile koexistieren, genau wie die Musikstile, nebeneinander und tragen zu einem lebendigen Diskurs innerhalb der „Szene“ bei. So widersprüchlich Punk mit den verschiedensten Facetten und Varianten bis heute auch sein mag, liefert die Subkultur den Impuls für eine widerständige Kultur, Selbstermächtigung und eine weitgehende Demokratisierung der Popkultur.

Schwerpunkt: Punk und Politik – Protest, Parolen und Provokation
Unser Schwerpunkt beleuchtet die politischen Komponenten im Punk. Die unterschiedlichen Lebensstile koexistieren, genau wie die Musikstile, nebeneinander und tragen zu einem lebendigen Diskurs innerhalb der „Szene“ bei. So widersprüchlich Punk mit den verschiedensten Facetten und Varianten bis heute auch sein mag, liefert die Subkultur den Impuls für eine widerständige Kultur, Selbstermächtigung und eine weitgehende Demokratisierung der Popkultur.

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Nationalsozialisten den Bau des U-Boot-Bunkers

Valentin in Bremen Farge dokumentierte, und

den Tagebuchaufzeichnungen von Raymond

Portefaix, der als Jugendlicher aus dem

französischen Dorf Murat nach Bremen Nord

verschleppt wurde und als KZ-Häftling auf der

Bunker-Baustelle landete, erzählt Jens Genehr in

seinem Comic Valentin von diesem riesigen

Rüstungsprojekt, bei dessen Umsetzung mehr als

1000 Zwangsarbeiter*innen aus ganz Europa

starben.

Über den Autoren: Jens Genehr ( *1990 ) studiert

an der HfK Bremen und arbeitet ehrenamtlich

am Denkort Bunker Valentin. Dies ist seine erste

Einzelveröffentlichung.

Gesamteindruck: Jens kürzt wahrscheinlich aus

rechtlichen Gründen die Nachnamen ab. Das

stört den Lesefluss in den Panels, gleichwohl

Karen Struve und Christel Trouvé die

Protagonisten im Epilog mit vollen Namen

nennen.

Nun, das soll lediglich eine Randnotiz sein und

nicht über die Wichtigkeit des Themas

hinwegtäuschen. Denn es geht zum einen um

Erinnerungspolitik, darum, dass Verbrechen im

NS nicht vergessen werden. Andererseits werden

heute Lager, Bunker oder

Propagandaschauplätze aus der Nazizeit als

dunkle Orte der Geschichte offensiv vermarktet,

sind darüber hinaus auch Lernorte für zeithistorische

Geschichtsbewusstsein.

Gedenkstättenfahrten sind eben auch

Spurensuche zum Nationalsozialismus und ein

Lernbeitrag am authentischen Ort für die

Auseinandersetzung mit der Geschichte von

Widerstand und Verfolgung im

Nationalsozialismus. Das gilt auch für den Bunker

Valentin in Bremen-Farge. Ab März 1945 sollte

dort alle zwei Tage ein U-Boot vom Stapel laufen.

Siebenmeterdicke Wände und Decken sollten

jedem Bombenangriff standhalten. Auf der

Baustelle schufteten täglich rund 8.000

Zwangsarbeiter. Mehr als 1.600 von ihnen

starben durch Unterernährung, Krankheiten oder

Tötungen. Der Bunker wurde nie fertiggestellt.

Jens hat sich das Zeichnen selbst beigebracht,

verzichtet größtenteils auf detaillierte

Hintergründe und fokussiert sich auf die

Ausdrucksformen der gezeichneten Personen

und benutzt verschiedene Grautöne und etwas

Tusche. Jens verknüpft 2 unterschiedliche

Perspektiven und Personen miteinander zu einer

Geschichte, die auf Quellen und Personen

basiert, die es wirklich gab. Der Zwangsarbeiter

Raymond Portefaix verarbeitet seine Erlebnisse

und schrieb 1947 einen tagebuchähnlichen

Bericht, der unter dem Titel ‚L'enfer que Dante

n'avait pas prévu‘ (Die Hölle, die Dante nicht

vorausgesehen hatte) veröffentlicht wurde. Die

Geschichte von Portefaix beginnt mit

willkürlichen Repressalien, deren Opfer er und

118 weitere Einwohner aus Murat (Cantal) sind.

Er ist gerade 18 geworden. Ab dem 1. August

1944 befand er sich unter dem Kommando in

Bremen-Farge, einem „monströsen Ort“. Die

Arbeitsbedingungen dort sind angesichts der

vielen Unfälle so schmerzhaft und

lebensgefährlich, trotzdem der junge Mann einen

starken Überlebenswillen entwickelt,

einschließlich der freiwilligen Infektion seiner

Wunden und seines Aufenthalts auf der

Krankenstation. Anfang April 1945 wurden die

KZ'ler unter entsetzlichen Bedingungen nach

Sandbostel gebracht, wo Typhus herrschte. Dort

starben sie massenhaft bis zur Befreiung durch

die Briten am 29. April. Von den Muratanern

kehrten nur 34 zurück. Jens schildert die

Wiederankunft mit Selbstzweifeln unter den

Überlebenden: Was erzählen sie ihren Familien,

was sie durchgemacht haben? Und warum haben

sie es verdient, überlebt zu haben und andere

nicht? Jens hat sich sehr nah an die

Schilderungen aus dem Tagebuch gehalten. Die

erlebten Gräueltaten und die Grausamkeiten sind

im Panel deutlich spürbar und lassen erahnen,

unter welchen Bedingungen die Zwangsarbeiter

leben und arbeiten mussten und Schläge, Hunger

und Durst, willkürliche und unfreiwillige

Demütigung ausgeliefert wurden.

Die Sichtweise und Perspektive des Fotografen

Johann Seubert basiert indes auf Fiktion. Jens

hatte lediglich die Fotos als Vorlage und

entwickelte hieraus eine fiktive Sichtweise.

Auch die Rolle der Kapos (Funktionshäftling)

spiegelt die Verkettung der Aggressoren wieder,

an denen die systematische

Vernichtung/Bestrafung festgeschrieben wird. Ein

weiterer Aspekt sind die Konfliktlinien unter den

Zwangsarbeitern, bezogen auf ihre Herkunft.

Jens hat die zwei Sichtweisen so dargestellt, dass

sich hieraus psychologische Aspekte

herauskristallisieren: Seubert ist der stille

Beobachter, der sich von den Gräueltaten

distanziert, diese nicht wahrnimmt und sich auf

die Funktion des Fotografierens beruft. Das mag

zunächst naiv erscheine, dient dem Selbstschutz

und dem Abwehrmechanismus, sich für etwas

verantwortlich zu fühlen (was sich auch im

grafischen Epilog an der Person des Ingenieurs

übertragen lässt), der jegliche Verantwortung von

sich weist und das mit der Erfüllung seiner

Aufgabe rechtfertigt).

Aus der Sichtweise des jungen Zwangsarbeiters

Portefaix wird deutlich, inwieweit

Fremdbestimmung, Willkür, Kannibalismus,

Hunger, Folter, Tod die im Selbst-Erleben

bleibende Rückstände dauerhaft das Leben

beeinflussen und prägen.

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