Kunstbulletin Dezember 2021

BÜCHER
Die Redaktion empfiehlt
Ausstellungen erzeugen Wissen. «Aber wie genau
tun sie das?», fragen verschiedene Projekte
an der Freien Universität Berlin. Von diesen gespeist,
setzt der Sammelband Trennung voraus:
Zu vermittelndes Wissen hier – ästhetische Erfahrung
da. Fallbeispiele wie Änne Sölls Beitrag
zu «Period Rooms» entlarven sie als fiktionale
Produktion. Museen suggerierten mit solchen
Environments bis weit ins 20. Jh. «erlebbare»
Geschichte. Kritisch betrachtet Karen van den
Berg das Grossraum-Display des Louvre Lens
als «Simulakrum» des Museums. Die wie per
Suchmaschine nivellierte Epochenschau macht
Museen zu Probebühnen einer digital vorsortierten
Weltschau – eine Resonanz zu Beatrice
von Bismarcks Einschätzung der Ausstellung
als forensischer «Evidenz auf Probe». Elke A.
Werner schliesslich profiliert die «Ausstellung
als visuelles Labor und Möglichkeitsraum
praxistheoretischer Reflexionen». Ein Paradox:
Sachlich evidentem Wissen verhaftet, droht
das «Expositorische» die ästhetische Dimension
des Ausstellens zu verfehlen. Wird hingegen
Letztere als Bedingung von Erkenntnis angenommen,
verrückt sich die Ausstellungspraxis.
Sie dient nicht als Wissensdispositiv, wird Ort
menschlichen Weltverhaltens. Wissenschaft
dorthin zu lenken, ist das Verdienst dieses
Bandes. J. Emil Sennewald
Klaus Krüger, Elke A. Werner und Andreas
Schalhorn (Hgg.): Evidenzen des Expositorischen,
transcript, 2019
Von April 1999 bis April 2020 fotografierte
Tomas Wüthrich den Hof mit der Betriebsnummer
4233. Der Hof liegt in Kerzers, ist
sechs Hektaren gross und hört am Ende der
insgesamt 13’000 Aufnahmen umfassenden
Bilddokumentation auf zu existieren. Die
Publikation zeigt eine Auswahl von Wüthrichs
fotografischer Zuwendung. Sie steht exemplarisch
für das Höfesterben und dokumentiert
zugleich das letzte Bauernjahr von Vater Hans
und Mutter Ruth. Die schwarzweissen Fotos
zeigen nüchtern und zugleich mit einer Nähe,
wie es vermutlich nur ein «Eingeborener»
kann, wie sich die Eltern Tag für Tag abrackern,
wie sie per Hand Maispflänzchen mit Dünger
umstreuen, den Stall ausmisten, mit der Sense
Gras mähen, Gülle ausfahren … und schliesslich
beim Einladen der verkauften Kühe helfen und
ihr neues Domizil anschauen. Die Bilder sind
romantisch, insofern sie Handarbeit und die
mit Natur, Tieren und Jahreszeiten verbundenen
Arbeitsprozesse zeigen, deutlich wird aber
auch das «Hamsterrad des täglichen landwirtschaftlichen
Überlebenskampfes». Die Legenden
zu den Bildern informieren über das, was
zu sehen ist, zugleich über heutige politischlandwirtschaftliche
Hintergründe. Der Wust
von staatlichen Vorgaben verbunden mit dem
Druck zu marktwirtschaftlicher Produktion hat
überall zu Verlierern, zu «Bauernopfern» geführt
– wobei letztlich offen ist, zugunsten von
welcher Art von Gewinn. Zwei Texte begleiten
die Fotostrecke: Balz Theus beleuchtet diesen
spezifischen Hof-Fall; Peter Pfrunder die
fotografische Darstellung von Bauernleben seit
1900. Hervorragend. Brita Polzer
Tomas Wüthrich: Hof Nr. 4233 – Ein langer
Abschied, Scheidegger & Spiess, Zürich 2021
NOTIERT // DIES UND DAS — BÜCHER 115