Tacita Dean — Antigone und ihr blinder Vater Tacita Dean arbeitet mit 16- und 35-mm-Film, einem lichtempfindlichen Material, das ebenso gefährdet ist wie die Stätten seiner Produktion, Projektion und seines Vertriebs. Die Präsentation von ‹Antigone›, ihrer jüngsten Arbeit, in Basel ist eine kluge Antwort auf Blindheit im Umgang mit audiovisuellem Erbe. Basel — ‹Antigone› ist ein analoger Film. Für die Präsentation wurde ein Kinoraum im zweiten Obergeschoss des Kunstmuseums eingerichtet. Dort wird er im stündlichen Rhythmus als Doppelprojektion gezeigt. Naturaufnahmen von heissen Quellen und der «Grossen amerikanischen Sonnenfinsternis» von 2017 wechseln sich in dem Diptychon ab mit Szenen in Innenräumen, wo Personen diskutieren oder Lyrik vortragen wie bei einem Experimentalfilm. Das ist eine überwältigende Erfahrung für alle Sinne, ein visuelles, emotionales und kognitives Ereignis. ‹Antigone› geht auf eine Filmidee zurück, die Tacita Dean 1997 zum Screenwriter’s Workshop mitgebracht hatte: «Die Handlung basiert auf dem nicht dramatisierten Stoff zwischen den beiden Sophokles-Dramen ‹König Ödipus› und ‹Ödipus auf Kolonos›, als der blinde Ödipus, geführt von seiner Tochter Antigone, durch die Wildnis zieht. Der Film schildert die zeitgenössische Reise eines Vaters und seiner Tochter vom modernen Theben nach Kolonos.» Dean nahm die Idee wieder auf, als sie nach Los Angeles umzog – in nächste Nähe zum Getty Institute und zu zeitgenössischen Filmproduktionsstätten, wo Fragen von HD, 3K, 4K und Virtual Reality Alltag sind. Sie begann sich mit einer dreifachen Blindheit auseinanderzusetzen:ihrer eigenen künstlerischen Blindheit gegenüber allgemein menschlichen Zufällen und Koinzidenzen, der Blindheit von Ödipus und der kosmischen Blindheit in Form der global wahrnehmbaren totalen Sonnenfinsternis von 2017. Sie übertrug diese Themen in einen Film und verstärkte dabei die «Blindheit», die dem Film als Medium inhärent ist: Die Vorgänge der Belichtung im Inneren der Kamera bleiben uns verborgen. Dean maskierte den Filmstreifen mit Schablonen. In einem ersten Schritt wurde ein Segment des Filmframes, nach dem Zurückspulen ein weiteres Segment belichtet. Sie wechselte die Drehorte von Bodmin Moor bei Winter zu den Ufern des Mississippi, von einem Gerichtsgebäude in Thebes zu den Geysiren im Yellowstone Park, ohne zu wissen, was sich bereits auf dem belichteten Film befindet. Die vom inneren Auge der Kamera aufgezeichneten Szenen offenbarten sich ihr erst im Spätsommer 2017. Mit dem Kinoraum als Präsentationsort wird ein bekanntes Format verwendet, das uns zu Reisen ins Unterbewusste und Unbekannte einlädt; in Gefilde mit anderen Geschwindigkeiten, wo Schlussfolgerungen unterbrochen, Wörter und Sprache sich neu ins Verhältnis zum Wahrnehmen setzen können. Stefanie Manthey → ‹Tacita Dean – Antigone›, Kunstmuseum Basel | Gegenwart, bis 9.1.; mit Künstlerbuch und fünfteiligem Podcast ‹Blindspots› ↗ www.kunstmuseumbasel.ch 80 <strong>Kunstbulletin</strong> 12/<strong>2021</strong>
Tacita Dean · Antigone, 2018, 2 synchronisierte 35-mm-Farbfilme, anamorphotisch, Lichtton, 60’, Loop mit synchronisiertem Start zur vollen Stunde; Ed. 1/4 + 1AP, Courtesy Frith Street Gallery, London, und Marian Goodman Gallery, New York/Paris. Foto: Julian Salinas BESPRECHUNGEN // BASEL 81
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