Kunstbulletin Dezember 2021

LandLiebe — Kunst und Landwirtschaft
Eine Art Labor und kaltes Licht empfangen die Besucherin. Auf
einem riesigen Tisch werden in Serie zarte Gemüsesetzlinge
kultiviert. Schläuche versorgen die jetzt noch kleinen Pflanzenkinder
mit den nötigen Nährstoffen. Was hat diese Intensivstation
mit Landliebe zu tun?
Chur — Die Arbeit ‹Endozoochoy project›, 2018/2021, von Mirko Baselgia zeigt industrielle
Lebensmittelproduktion unter streng kontrollierten Bedingungen. Hier werden
Pflanzen atomisiert und artifiziell gepäppelt. Von Romantik keine Spur, die Anlage
erscheint wie tot und doch wächst da etwas heran. Baselgias Hydrokultur entspricht
kaum dem, was man in der Regel mit Bauerntum verbindet. Und doch ist es gerade
dieser Bruch der Erwartungen, der die Qualität der Schau ausmacht. Zwar werden
auch historische Bilder und Fotografien gezeigt, auf denen sich das Landleben als
Idylle präsentiert, so auf Giovanni Giacomettis ‹Sonniger Hang mit Ziegen und Schafen›,
1900, oder auch als harte Arbeit, so auf den Kinderbildern von Emil Brunner,
1943/44. Der Grossteil der Werke erzählt aber von der Entfremdung und Verunsicherung,
die unserem heutigen Blick auf Bauerntum und Landwirtschaft entspricht. Und
diesbezüglich werden eindrückliche, nicht nur europäische Positionen vorgestellt.
Anna Tiessen (*1993) fotografierte angehende Bauern und Mechaniker in ihrer
schleswig-holsteinischen Heimat. Für etwa ein Jahr war sie wieder Teil der Gruppe,
in der sie aufgewachsen war. Sie hat Partys in Garagen und Werkstätten gefeiert,
hat mitgeholfen, hat mitgetrunken. «Dennoch bin ich immer wieder einen Schritt
zurückgetreten und habe mir das Treiben von aussen angeschaut», sagt die junge
Fotografin, deren Bilder die erschreckende Lebensrohheit einer ländlichen Gruppe
junger Männer einfangen. Sehr eindrücklich auch das Video des in Costa Rica lebenden
und als Ausbildner für ökologische Anbaumethoden tätigen Carlos Fernández
(*1986). ‹Agrofit›, 2014, ein Name, der wie Werbung für ein chemisches Düngemittel
klingt, zeigt vier junge Leute in einer Hügellandschaft, die von einer Art Vorarbeiter
überwacht und angewiesen werden. Sie absolvieren ein Fitnessprogramm, sie hieven
sich schwere Säcke auf die Schulter, sie heben mit Spitzhacke einen Graben aus
oder pflanzen Ananas. Unterlegt mit ungleichmässig an- und abschwellenden Atemgeräuschen,
Herzschlagrhythmen und Vogelgezwitscher, zudem in Zeitlupe gezeigt,
mutet dieser kurze Film höchst seltsam an. Haben wir es mit Leibeigenschaft zu tun,
sollen hier Fitnesstrainings und harte Bauernarbeit kombiniert werden? Olaf Holzapfel
(*1967) zeigt aus Stroh und Heu gefertigte Bildobjekte, zudem die raumfüllende
Installation ‹Pflanzenwerk›, 2021, eine geschwungene Fachwerkstruktur samt Schilfballen.
Mit Katalog. Brita Polzer
→ ‹LandLiebe›, Bündner Kunstmuseum bis 2.1. ↗ www.kunstmuseum.gr.ch
84 Kunstbulletin 12/2021