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Kunstbulletin Dezember 2021

Unsere Dezember Ausgabe 2021, mit Beiträgen zu Sonia Kacem, Sophie Bouvier Ausländer, Nicolas Party, The Other Kabul, uvm.

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erspüren, dass es da ist. Heitere Genreszenen? Nur auf den ersten Blick. Kupplerische<br />

Liebe und böses Ende sind zu erahnen. Seltsame Beziehungen wirken auch im<br />

grossen Bildnis der ‹Familie des Infanten Don Luis›, 1783/84, mit Goya als Organisator<br />

der Szenerie; nicht nur hier ist der Einfluss von Velázquez spürbar.<br />

Sieben Jahre später, Goya ist inzwischen zum Ersten Hofmaler avanciert, wird er<br />

das prächtige, geistvolle Bildnis von Carlos IV. und seiner Familie erschaffen. Es ist,<br />

wie andere ikonische Gemälde – ‹Der Sonnenschirm›, ‹Erschiessung der Aufständischen›,<br />

‹Saturn,einen seiner Söhne verschlingend›, ‹Der Hund›(beide nicht reisefähig),<br />

‹Das Milchmädchen von Bordeaux› – nicht Teil der Ausstellung, aber auch abwesend<br />

anwesend: in der hinreissenden Porträtstudie des jüngsten Kindes des Königspaars<br />

oder den beiden Porträts seiner Eltern, als diese noch jünger und schlanker waren.<br />

Ergreifende Mitmenschlichkeit und vitale Brutalität<br />

Überhaupt ist der Porträtkünstler Goya gut vertreten. Ob Auftragswerke für den<br />

Hof und dessen Umfeld, ob Porträts von Freunden, Intellektuellen, Aufklärern, engagierten<br />

Frauen: Die Menschen sind mit ausserordentlicher Empathie als Individuen<br />

erfasst, mit charakteristischer Emphase – der «Erkennungseffekt» ist gross. Und die<br />

Selbstporträts? Ergreifend. Das kleinste von 1790–95 zeigt Goya in ganzer Grösse<br />

vor der Staffelei; der Hofmaler emanzipiert sich zum Erfinder und freien Künstler.<br />

Neben dem berühmten Selbstbildnis von 1815, in dem die Grenzen von Ich und Du<br />

aufgehoben scheinen, überrascht die Ausstellung mit dem ‹Selbstbildnis mit dem<br />

Arzt Arrieta›, 1820, das Goya seinem Retter aus schwerer Krankheit widmet: ergreifende<br />

Mitmenschlichkeit, ein «religiöses» Bild völlig im Diesseits.<br />

Der Künstler als stellvertretend Leidender, auch an den Unstimmigkeiten seiner<br />

Zeit. Da darf man denn, wie in der Radierungsfolge der ‹Caprichos›, 1799, in der Goya<br />

schonungslose Gesellschaftskritik betreibt, auch einmal lachen. Doch meistens<br />

bleibt einem das Lachen im Hals stecken, lauern doch überall jene Ungeheuer, wie sie<br />

den Künstler im Meisterblatt ‹Der Schlaf/Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer› bedrängen.<br />

Mag man in den oft zweideutigen ‹Caprichos› noch so etwas wie Moral entdecken,<br />

in den ‹Desastres de la guerra›, 1810–15 (erst 1863 publiziert), fehlt sie völlig.<br />

Goya, genauer Beobachter des Sinnlosen, schildert die Kriegsgräuel ähnlich wie ein<br />

moderner Fotojournalist. Mit schwer zu interpretierender Grausamkeit schaut er zu,<br />

konstatiert, hält fest. Das ist verstörend und lässt sich nicht auflösen. Goyas Zumutungen<br />

muss man aushalten, wenn er uns Menschenfresser- und Räubergeschichten<br />

erzählt, in Irrenhäuser lockt und in Gefängnisse. Grossartig die kleinen Gemälde aus<br />

der Sammlung des Marqués de la Romana oder auch die dem Stierkampf gewidmeten<br />

Darstellungen, erfüllt von vitaler Brutalität. Und die späten Skizzenbücher aus<br />

Goyas Exil in Bordeaux? Noch einmal überrascht er mit ungeheuren Einfällen, seiner<br />

Zeit voraus wie Büchner, aus dessen ‹Woyzeck› Manuela B. Mena Marqués im Katalog<br />

zitiert: «Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.»<br />

Angelika Maass ist Kulturpublizistin, Autorin, Übersetzerin. a.maass@hispeed.ch<br />

→ ‹Goya›, Fondation Beyeler, Basel/Riehen, bis 23.1.; Kat. Hatje Cantz Berlin ↗ fondationbeyeler.ch<br />

FOKUS // FRANCISCO DE GOYA<br />

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