Kunstbulletin Dezember 2021

Gustave Courbet
Winterthur — Den hat er sehr gemocht, den
eigensinnigen Courbet, von dem im Lauf von
vierzig Jahren zehn Gemälde in seine, Oskar
Reinharts, Sammlung gelangten – von der
‹Hängematte›, 1844, bis zum Bildnis seines alten
Freundes Gustave Mathieu, 1869; Reinhart
erwarb es 1963, zwei Jahre vor seinem Tod.
Ihnen allen, einem weiteren Werk, das vielleicht
doch kein Courbet ist, und zwei prächtigen
Gastbildern kann man in der Kabinettausstellung
mit dem schönen Titel ‹Courbet – Träume
eines Realisten› begegnen. Kerstin Richter
und Katja Baumhoff präsentieren hier zum
ersten Mal den gesamten Courbet-Bestand der
Sammlung Am Römerholz. Ergänzend werden
Dokumente aus Reinharts Besitz gezeigt, Zeugnisse
seiner anhaltenden Leidenschaft für den
Künstler, in dem er wie der legendäre Julius
Meier-Graefe einen «Ahnherrn der modernen
Malerei» und Vorläufer seiner Lieblingskunst,
des französischen Impressionismus, sah.
Noch etwas zeigen die Vitrinen: Die Landschaften
der Franche-Comté mit ihren Plateaus und
tiefen Tälern stimmen mit der Kunstwirklichkeit
überein. Richter und Baumhoff sind ins Dunkel
zum Wasser hinabgestiegen, haben die Felswände
leuchten sehen und von ihrem Ausflug in
die Heimat des Malers Bilder mitgebracht, die
auf zwei Tablets zeigen: Courbets Realismus ist
wirklich real. Jedenfalls in seinen Grundzügen,
in der antiakademischen Haltung des Künstlers
sowieso. Doch meistens schwingt noch etwas
«Romantisches» mit, ein Gefühl, das sich auf
die Seite des jeweiligen Motivs schlägt, tiefgründig,
ursprungsnah und naturverbunden bei
den Landschaften, dramatisch-lebendig in den
Seestücken, sozial und mitmenschlich, wenn
es um Bauern- und Arbeiteralltag geht – ‹Die
Steinklopfer› –, von mehrdeutiger Erotik und
träumerischer Fantasie bei den schlafenden
Frauen; Eros spielt übrigens auch sonst oft
hinein, das Verschlingende der Wogen und das
Höhlendunkel der Waldlandschaften sagen
es deutlich genug. Gustave Courbet (Ornans
1819–1877 La Tour-de-Peilz) war ein wilder
Kerl, der genau wusste, was er wollte, und dabei
sehr strategisch vorging. Wenn er mit einem
Motiv Erfolg hatte, brachte er gleich mehrere
Varianten auf den Markt. Schön, dass neben
den hauseigenen Werken, die einen grossen Teil
von Courbets Motivwelt abdecken, auch eines
seiner vielen Selbstporträts (aus Wien) den Weg
nach Winterthur gefunden hat: der Künstler als
Herzschmerz-Verwundeter – man weiss nicht
so recht, wie ernst man das nehmen soll. Das
andere Gastbild (aus Frankfurt) ist eines von
zahllosen Meereswogen-Motiven, wobei mir
Reinharts ‹Woge› das stärkere scheint, weil der
kompaktere Himmel dem Wasser keine Konkurrenz
macht. Beide aber sind erfüllt von der bei
Courbet allgegenwärtigen Leidenschaft. AM
Gustave Courbet · Die Hängematte, 1844, Öl auf
Leinwand, 70,5 x 97 cm, Courtesy Sammlung
Oskar Reinhart «Am Römerholz», Winterthur
Gustave Courbet · Waldlandschaft mit Bach,
nach 1855, Öl auf Leinwand, 65 x 80 cm, Slg.
Oskar Reinhart «Am Römerholz», Winterthur
→ Sammlung Oskar Reinhart «Am Römerholz»,
bis 2.1. ↗ www.roemerholz.ch
HINWEISE // WINTERTHUR/BASEL MUTTENZ / WINTERTHUR
73