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Kunstbulletin Dezember 2021

Unsere Dezember Ausgabe 2021, mit Beiträgen zu Sonia Kacem, Sophie Bouvier Ausländer, Nicolas Party, The Other Kabul, uvm.

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Francis Alÿs — Walking circles, walking lines<br />

Das Gehen ist für Francis Alÿs ein künstlerischer Akt. Die<br />

Streifzüge, allein oder in Begleitung, bilden den performativen<br />

Rahmen seines Nachdenkens über die Paradoxien der Produktivität.<br />

Mitgedacht werden soziale, ökonomische und politische<br />

Zwänge: ergebnisoffen und nonchalant, doch stets subversiv.<br />

Lausanne — Zum Auftakt Kinderspiele: Geschickt lassen Knirpse Drachen steigen,<br />

treiben Pneus über Schotter oder vergnügen sich im Kreis. Viel brauchen sie dafür<br />

nicht, viel haben sie auch nicht, nicht am Hindukusch. Dort hat der Belgier Francis<br />

Alÿs (*1959) für die binational in Kassel und Kabul ausgetragene dOCUMENTA (13)<br />

die Arbeit ‹Reel–Unreel› realisiert. Überdies hat er seine Rückkehr in das schon früher<br />

mehrfach bereiste Land genutzt, um seine Langzeitserie ‹Children’s Games› zu<br />

ergänzen. Die beiden Projekte verklammern nun im Musée cantonal des Beaux-Arts<br />

den ersten Teil einer grossen Einzelschau und nehmen uns mit auf eine Reise, welche<br />

die mediale Normkost empathisch kontert. Mal sind es stille Sequenzen wie die Porträts,<br />

die Alÿs 2013, als «embedded artist» in der Task Force der britischen Armee,<br />

von Taliban-Kämpfern und britischen Soldaten beim Waffencheck aufnahm. Mal<br />

quellen die Szenen über vor quirligem Leben.<br />

Zwischen den Videos Material aus Alÿs’ Archiv: Auf einem der Blätter sind die<br />

Worte «follow the line» zu lesen. Sie sind durchgestrichen und ersetzt durch die<br />

Maxime «following /UNDOING = tracing = doing». Umgekehrt folgert Alÿs «preceding<br />

/DOING = erasing = undoing». Die Einträge, so kurios sie erst wirken, entfalten<br />

ihren Sinn in der Ausstellung wieder und wieder: Im Video ‹Reel–Unreel› rollen<br />

Buben statt Pneus Filmspulen quer durch Kabul, wickeln sie ab respektive auf und<br />

begegnen so dem Filmverbot der Taliban mit einer Fiktion realer Freiheit. Auch der<br />

Titel ‹Sometimes Doing Is Undoing and Sometimes Undoing Is Doing›, den Alÿs den<br />

Waffencheck-Videos gab, greift diese Logik direkt auf. Weitere Beispiele liefern ältere<br />

Arbeiten wie ‹Paradox of Praxis 1› oder ‹The Green Line›. Im ersten Fall schiebt<br />

Alÿs ziellos einen Eisblock durch die Hitze von Mexiko Stadt (‹Sometimes Doing Something<br />

Leads to Nothing›), im andern visualisiert er mit einer Tropfspur die aggressive<br />

israelische Grenzexpansion (‹Sometimes Doing Something Poetic Can Become<br />

Political, and Sometimes Doing Something Political Can Become Poetic›).<br />

Linien zu ziehen, ist also buchstäblich Alÿs’ Leitprinzip. Wie das Gehen ist es<br />

sichtbarer Vektor seines kritischen Handelns. Diese Kohärenz belegt auch der zweite<br />

Ausstellungsteil, der neben ‹Paradox of Praxis 1› und ‹The Green Line› ein Dutzend<br />

weiterer Projektionen enthält. Manches davon ist in voller Länge auch auf Alÿs’ Website<br />

abspielbar. In Lausanne formt es ein lautes, begehbares Ganzes, einen grandiosen<br />

Aktions- und Echoraum, der auch weite Anreisewege lohnt. Astrid Näff<br />

→ ‹Francis Alÿs – As Long as I’m Walking›, Musée cantonal des Beaux-Arts, bis 16.1. ↗ www.mcba.ch<br />

90 <strong>Kunstbulletin</strong> 12/<strong>2021</strong>

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