Jahresgutachten 1998/99 - Sachverständigenrat zur Begutachtung ...
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Drucksache 14/73 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode<br />
202<br />
FÜNFTES KAPITEL<br />
Eine Politik für Wachstum und Beschäftigung<br />
I. Handlungsbedarf am Beginn der<br />
neuen Legislaturperiode<br />
Zur konzeptionellen Grundlage<br />
der Wirtschaftspolitik<br />
327. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wird in den<br />
kommenden Jahren vorrangige Aufgabe der Wirtschaftspolitik<br />
sein. Die neue Bundesregierung hat dies zu ihrem<br />
obersten Ziel erklärt. Sie sieht, so die Koalitionsvereinbarung,<br />
im Abbau der Arbeitslosigkeit den „Schlüssel<br />
<strong>zur</strong> Lösung der wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen<br />
Probleme in der Bundesrepublik Deutschland“.<br />
Die Bundesregierung will in einer zukunftsfähigen Politik<br />
wirtschaftliche, soziale und ökologische Ziele gleichberechtigt<br />
miteinander verbinden. Umweltpolitischen<br />
Zielen wird hoher Rang eingeräumt; daneben werden mit<br />
der Betonung der sozialen Gerechtigkeit verteilungspolitische<br />
Ziele hervorgehoben. Man muß sich aber darüber<br />
klar sein, daß, wenn mehrere Ziele verfolgt werden,<br />
Konflikte zwischen ihnen auftreten können; es nützt wenig,<br />
sie durch Wunschdenken zuzudecken. Wenn die<br />
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit das oberste Ziel ist,<br />
wird man ihm Vorrang einräumen müssen; dies kann bedeuten,<br />
daß man bei der Verfolgung ökologischer Ziele<br />
<strong>zur</strong>ückstecken muß, ebenso auch, daß an sich unerwünschte<br />
Verteilungseffekte in Kauf zu nehmen sind.<br />
328. In der politischen Diskussion mag gelegentlich<br />
der Eindruck entstehen, es komme vor allem auf den<br />
ernstlichen Willen an, etwas gegen die Arbeitslosigkeit<br />
zu tun; daß die Lage bislang so unbefriedigend sei, liege,<br />
so wäre zu folgern, daran, daß es der Politik an diesem<br />
ernstlichen Willen gefehlt habe. Dies ist sicherlich<br />
falsch; nicht über das Ziel bestand und besteht Uneinigkeit,<br />
sondern darüber, auf welchem Weg ihm näherzukommen<br />
sei. Es ist nicht damit getan, gute Absichten<br />
und hochgesteckte Ziele zu verkünden. Von entscheidender<br />
Bedeutung ist vielmehr eine klare und durchdachte<br />
wirtschaftspolitische Konzeption <strong>zur</strong> nachhaltigen<br />
Beseitigung der Ursachen für die Fehlentwicklung auf<br />
dem Arbeitsmarkt. Fehler und Unzulänglichkeiten in der<br />
wirtschaftspolitischen Konzeption können schwerwiegende<br />
Folgen haben. Deswegen ist es zu Beginn der<br />
neuen Legislaturperiode besonders wichtig, daß über die<br />
konzeptionellen Grundlagen des zu verfolgenden wirtschaftspolitischen<br />
Kurses Klarheit besteht.<br />
329. Die Bundesregierung verbindet große Hoffnung<br />
mit einem „Bündnis für Arbeit und Ausbildung“, in dem<br />
alle gesellschaftlichen Kräfte <strong>zur</strong> Bekämpfung der Arbeitslosigkeit<br />
mobilisiert werden sollen. Solche Bemühungen<br />
hat es auch früher schon gegeben; die bisherigen<br />
Erfahrungen lassen eine nüchterne Beurteilung angeraten<br />
erscheinen. Verhandlungen und Vereinbarungen zwischen<br />
Regierung und Spitzenverbänden können nützlich sein; sie<br />
bergen aber auch erhebliche Gefahren, nicht zuletzt, weil<br />
die öffentlichkeitswirksame Ankündigung Erwartungen<br />
weckt, die nur schwer erfüllt werden können.<br />
Der Nutzen von Gesprächen im Rahmen eines „Bündnisses“<br />
kann vor allem darin liegen, daß sie eine Chance<br />
bieten, Konsens über die Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen<br />
Lage und über den wirtschaftlichen Kurs zu<br />
erzielen und damit eine wirtschaftspolitische Strategie<br />
leichter zu realisieren. Weiterhin können Vereinbarungen<br />
zwischen Verbänden und der Regierung, wenn sie<br />
verläßlich erscheinen, <strong>zur</strong> Stabilisierung der Erwartungen<br />
von Investoren beitragen; sie können beispielsweise<br />
– nach dem erfolgreichen Vorbild der Niederlande<br />
(JG 97 Ziffer 72) – Vertrauen in die Stetigkeit eines<br />
beschäftigungsorientierten Kurses der Lohnpolitik schaffen.<br />
Wesentlich ist, daß in der Öffentlichkeit keine falschen<br />
Vorstellungen darüber entstehen, was mit einem „Bündnis“<br />
erreicht werden kann und was nicht. So wird unter<br />
den Teilnehmern der Gespräche niemand dem Irrtum<br />
unterliegen, Verbandsvertreter könnten verbindliche Zusagen<br />
über das Verhalten von Unternehmen machen,<br />
insbesondere über die Schaffung von Arbeitsplätzen; in<br />
der Öffentlichkeit besteht diese Klarheit nicht, und deswegen<br />
muß befürchtet werden, daß später, wenn der<br />
erhoffte Erfolg ausbleibt, der Vorwurf erhoben wird, Zusagen<br />
seien nicht eingehalten worden. Vor allem darf die<br />
Bundesregierung sich nicht dadurch erpreßbar machen,<br />
daß sie eine Situation entstehen läßt, in der enttäuschte<br />
Erwartungen ihr selbst <strong>zur</strong> Last gelegt werden. Auf keinen<br />
Fall darf sie akzeptieren, daß von Seiten eines Verbandes<br />
politische Bedingungen dafür gestellt werden,<br />
daß dieser die eigene Verantwortung für die Beschäftigung<br />
wahrnimmt. Die Verantwortlichkeit aller Beteiligten<br />
für ihren eigenen Beitrag <strong>zur</strong> Bekämpfung der Arbeitslosigkeit<br />
muß im „Bündnis“ unberührt bleiben.<br />
Ein „Bündnis“ kann, sofern man sich seiner Grenzen<br />
bewußt bleibt, als Instrument <strong>zur</strong> Realisierung einer<br />
wirtschaftspolitischen Konzeption dienen. Aber es kann<br />
sie nicht ersetzen; und es darf auf keinen Fall dazu führen,<br />
daß sie verwässert und unglaubwürdig wird.<br />
330. Die Wiederherstellung einer befriedigenden Beschäftigungslage<br />
ist keine Aufgabe, die in kurzer Zeit<br />
und mit einfachen Rezepten bewerkstelligt werden kann.<br />
Vor allem muß man vor der Illusion warnen, ein konjunktureller<br />
Aufschwung würde genügen, um den Weg<br />
<strong>zur</strong> Wiedergewinnung eines hohen Beschäftigungsstands<br />
zu ebnen. Man muß sich vor Augen halten, wie es zu der<br />
heutigen Lage gekommen ist. Sie ist das Ergebnis einer<br />
seit über 25 Jahren währenden Entwicklung, in der die