Jahresgutachten 1998/99 - Sachverständigenrat zur Begutachtung ...
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Drucksache 14/73 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode<br />
ihnen zugleich aber auch Grenzen setzen. Mit den institutionellen<br />
Regelungen wird auch der Rahmen für die<br />
wirtschaftspolitischen Akteure abgesteckt.<br />
Im Ordnungsrahmen einer Volkswirtschaft hat die Organisation<br />
des Geldwesens zentrale Bedeutung. Die Lösung<br />
dieses Organisationsproblems, die Kompetenz für die<br />
Geldpolitik einer unabhängigen Zentralbank zu übertragen,<br />
hat sich in Deutschland in langen Jahren bewährt, sie<br />
wird künftig auch für die Europäische Währungsunion<br />
gelten. Die ordnungspolitische Begründung für diese Lösung<br />
ist, das die verläßliche Versorgung einer Volkswirtschaft<br />
mit wertbeständigem Geld nur schwer zu gewährleisten<br />
ist, wenn die Geldpolitik in die allgemeine Politik<br />
eingebunden ist und jederzeit für wechselnde Zwecke und<br />
Ziele instrumentalisiert werden kann. Die ordnungspolitisch<br />
motivierte Entscheidung, eine politisch unabhängige<br />
Instanz mit der Geldpolitik zu betrauen, ist als Selbstbeschränkung<br />
der staatlichen Politik zu verstehen. Durch<br />
eine glaubwürdige Selbstbeschränkung kann Vertrauen<br />
gewonnen und damit auch wieder der eigene Handlungsspielraum<br />
erweitert werden. Bei der Geldpolitik geht es<br />
darum, das Mißtrauen der Bürger gegenüber einem Geldsystem<br />
zu überwinden, das den wechselnden Zielen und<br />
Wünschen von Politikern ausgeliefert ist. Mit der Überwindung<br />
dieses Mißtrauens gewinnen die Bürger für ihre<br />
wirtschaftlichen Aktivitäten einen verläßlichen Orientierungsrahmen;<br />
das erleichtert es auch der staatlichen Wirtschaftspolitik,<br />
ihre Ziele zu realisieren.<br />
Es zeugt von einem grundlegenden Mangel an Verständnis<br />
dieser institutionellen Regelung, wenn unter Berufung<br />
auf demokratische Prinzipien die unabhängige Notenbank<br />
aufgefordert wird, ihre geldpolitischen Entscheidungen<br />
der von der staatlichen Wirtschaftspolitik<br />
verfolgten Linie unterzuordnen. Die Unabhängigkeit der<br />
Notenbank bedeutet nicht, daß sie keine wirtschaftspolitische<br />
Verantwortung trägt. Sie hat nicht nur für stabiles<br />
Geld zu sorgen, sondern sie ist auch dafür verantwortlich,<br />
daß die Geldversorgung den Erfordernissen einer<br />
wachsenden Wirtschaft entspricht; damit trägt sie zum<br />
Wachstum und zum Erreichen eines hohen Beschäftigungsstandes<br />
bei. Die staatliche Politik muß allerdings<br />
akzeptieren, daß sie nicht laufend über das geldpolitische<br />
Instrumentarium verfügen und es in ihr jeweiliges<br />
Handlungsprogramm einplanen kann.<br />
Soll durch Selbstbeschränkung der Politik Vertrauen entstehen,<br />
so muß diese glaubwürdig sein. Die Glaubwürdigkeit<br />
leidet durch öffentliche Äußerungen einflußreicher<br />
Politiker, die Selbstbeschränkung nicht oder jedenfalls<br />
nicht in vollem Umfang akzeptieren zu wollen. In<br />
der heiklen Phase der Gründung einer Währungsunion<br />
ist alles, was die Glaubwürdigkeit der Politik gefährdet,<br />
besonders schädlich. Wer die Währungsunion nicht<br />
scheitern lassen will, möge dies bedenken.<br />
351. Die Bundesregierung hat sich ehrgeizige Ziele<br />
gesetzt, an erster Stelle den Abbau der Arbeitslosigkeit.<br />
Je anspruchsvoller die Ziele sind, desto höher sind auch<br />
die Anforderungen an die Qualität der Wirtschaftspolitik,<br />
an ihre Konsistenz, an die Eindeutigkeit der Gewichtung<br />
von Zielen, an die Beachtung der Grenzen staatlicher<br />
Einflußnahme, an die ordnungspolitische Fundierung.<br />
Mit einer Politik des raschen Improvisierens wird nichts<br />
210<br />
zu erreichen sein. Wünschenswert wäre es, das wirtschaftspolitische<br />
Handlungsprogramm auf eine konsistente<br />
konzeptionelle Grundlage zu stellen.<br />
II. Neue Bundesländer:<br />
Die Wirtschaftspolitik langfristig orientieren<br />
352. In der Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit<br />
erscheint die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen<br />
Bundesländern ganz überwiegend in einem ungünstigen<br />
Licht; es entsteht der Eindruck, der Aufbauprozeß komme<br />
nur mühsam voran, wenn er nicht sogar, zumindest<br />
in manchen Regionen, schon ganz in Stagnation geraten<br />
sei. Dieses unvorteilhafte Bild scheint auch zum Teil die<br />
Grundstimmung der Menschen in Ostdeutschland selbst<br />
zu prägen und Unzufriedenheit zu erzeugen.<br />
Unmittelbare Eindrücke und objektive Daten bestätigen<br />
jedoch keineswegs eine insgesamt trübe Einschätzung,<br />
sie bieten vielmehr ein weit differenzierteres Bild. In den<br />
vergangenen Jahren ist eine hochmoderne Verkehrs- und<br />
Kommunikationsinfrastruktur entstanden. Nachdem es<br />
anfangs große Besorgnisse über eine Deindustrialisierung<br />
gab, zeigt seit einiger Zeit gerade die Industrie beachtliche<br />
Zuwachsraten. Die Anzahl der Unternehmen,<br />
die auch überregionale Markterfolge ausweisen, nimmt<br />
zu, zugleich steigt der Anteil derer, die die Verlustzone<br />
hinter sich gelassen haben. Es sind regionale Zentren mit<br />
eindrucksvoller Entwicklungsdynamik entstanden.<br />
Mit zunehmender regionaler Differenzierung gibt es<br />
neben den erfolgreichen Regionen nicht wenige andere,<br />
denen es schwerfällt, sich aus der Stagnation zu lösen.<br />
Was jedoch, die Regionen und Wirtschaftsbereiche<br />
übergreifend, dem Gesamtbild die ungute Prägung gibt<br />
und alle Erfolge überschattet, ist die Lage des Arbeitsmarktes.<br />
Die Stagnation der Erwerbstätigkeit, das Verharren<br />
der Arbeitslosigkeit auf hohem Niveau, die Zuflucht<br />
zu Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und anderen<br />
Formen verdeckter Arbeitslosigkeit, die unverkennbar<br />
den Charakter un<strong>zur</strong>eichenden Notbehelfs tragen, all dies<br />
sind die Fakten, die bei der Beurteilung der wirtschaftlichen<br />
Lage in den neuen Bundesländern heute in den<br />
Vordergrund gestellt werden. Solange sich auf dem<br />
Arbeitsmarkt keine deutliche Besserung zeigt, wird allen<br />
ansonsten erreichten Erfolgen im Aufbauprozeß die<br />
Anerkennung versagt bleiben; um so größer ist die Versuchung,<br />
durch kurzfristige Eingriffe das Erscheinungsbild<br />
des Arbeitsmarktes zu verbessern, und um so<br />
schwieriger ist es, unter Verzicht auf kurzfristige Erfolge<br />
eine Politik durchzuhalten, die auf lange Sicht trägt.<br />
353. In den ersten Jahren nach der Vereinigung war die<br />
Wirtschaftspolitik stark durch die Erwartung beeinflußt,<br />
der wirtschaftliche Rückstand der neuen gegenüber den<br />
alten Bundesländern könne in wenigen Jahren aufgeholt<br />
werden. Das von dem sozialistischen Regime hinterlassene<br />
Debakel wurde anfangs noch nicht in seinem vollen<br />
Ausmaß erkannt. Der Zeitbedarf für das Ingangkommen<br />
eines nachhaltigen und selbsttragenden Wachstumsprozesses,<br />
der den Abstand gegenüber dem früheren Bundesgebiet<br />
deutlich und mit zunehmendem Erfolg verringern<br />
würde, ist ganz allgemein unterschätzt worden.