Jahresgutachten 1998/99 - Sachverständigenrat zur Begutachtung ...
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langen Atem und Standfestigkeit gegenüber dem Begehren<br />
der Interessengruppen brauchen; um so wichtiger ist<br />
es, daß mit den Reformmaßnahmen unverzüglich begonnen<br />
wird.<br />
413. Mit dem ersten und zweiten Gesetz <strong>zur</strong> Neuordnung<br />
von Selbstverwaltung und Eigenverantwortung in<br />
der Gesetzlichen Krankenversicherung von 1<strong>99</strong>7 und<br />
zuvor schon mit dem Gesundheits-Strukturgesetz<br />
von 1<strong>99</strong>2 sind bereits Maßnahmen eingeleitet worden,<br />
die in die richtige Richtung weisen. Aber in erster Linie<br />
geht es dabei um die kurzfristige Sanierung der Finanzen<br />
der Gesetzlichen Krankenversicherung. Immerhin<br />
haben nunmehr die Kassen zusätzliche, wenn auch begrenzte<br />
Gestaltungsmöglichkeiten bei der Beitragsrückerstattung<br />
und bei Selbstbehalten. Darin ist zumindest<br />
ein Ansatz für ein stärker am Wettbewerb orientiertes<br />
System der Krankenversicherung zu sehen. Auf dieser<br />
Linie sollten die weiteren Reformschritte liegen. Wichtig<br />
wäre es nun vor allem, den Krankenkassen sowohl<br />
auf der Beschaffungsseite, das heißt in Verträgen mit<br />
den Leistungserbringern, als auch auf der Absatzseite,<br />
das heißt in den Versicherungsverträgen, mehr Gestaltungsspielraum<br />
zu gewähren. Erst wenn dies gegeben<br />
ist, können die Kassen als Scharnier zwischen der<br />
Nachfrage nach und dem Angebot an Gesundheitsleistungen<br />
funktionieren, so daß es zu mehr Effizienz und<br />
Kostenbewußtsein kommt.<br />
Die neue Bundesregierung plant bis zum Jahre 2000 eine<br />
Strukturreform im Gesundheitssystem, mit der ein verstärkter<br />
Qualitätswettbewerb, mehr Wirtschaftlichkeit<br />
und effizientere Verwaltungsstrukturen erreicht werden<br />
sollen. Gleichzeitig wird aber in der Koalitionsvereinbarung<br />
angekündigt, bereits kurzfristig wieder regulierend<br />
in das Gesundheitswesen einzugreifen. Dabei geht es um<br />
kurzfristige Ausgabenbegrenzungen, um partielle Ausgabenausweitung<br />
sowie um die Rücknahme einzelner<br />
Regelungen über Selbstbehalt oder Beitragsrückerstattungen.<br />
All das läuft den angekündigten Zielen zuwider.<br />
Sozialhilfe: Zwischen Solidarität und Subsidiarität<br />
414. In einer marktwirtschaftlichen Ordnung wird<br />
– dem Gedanken der Entscheidungsfreiheit und Eigenverantwortung<br />
der Bürger folgend – die prioritäre Lösung<br />
der Einkommensrisiken in der privaten Vorsorge<br />
gesehen. Der einzelne bleibt bei der Absicherung gegen<br />
die Wechselfälle des Lebens allerdings nicht sich selbst<br />
überlassen, sondern ist der Solidarität der Gesellschaft<br />
anvertraut. Dabei gilt das Prinzip der Subsidiarität: Im<br />
Rahmen der eigenen Möglichkeiten ist der einzelne für<br />
sich selbst verantwortlich. Solidarischer Beistand ist für<br />
diejenigen geboten, die nicht selbst für sich sorgen können<br />
oder niemanden haben, der dies übernehmen könnte.<br />
Die staatliche Aufgabe besteht in der Sicherung des Existenzminimums<br />
mit dem Ziel, ein Leben unter zumutbaren<br />
und würdigen Bedingungen zu gewährleisten. Diese<br />
Aufgabe erfüllt die Sozialhilfe. Das Subsidiaritätsprinzip<br />
wird dadurch beachtet, daß für die Festsetzung der Leistungen<br />
eigene Einkommen, eigenes Vermögen und<br />
Unterhaltsansprüche gegenüber Dritten berücksichtigt<br />
werden.<br />
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode Drucksache 14/73<br />
415. Leistungen <strong>zur</strong> Absicherung des Existenzminimums<br />
sind gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten<br />
und auch bei großen Haushaltsnöten im öffentlichen Bereich<br />
zu erbringen. Bei der Gestaltung dieser Leistungen<br />
müssen allerdings Regelungen gefunden werden, durch<br />
die Effizienzverluste für die Gesamtwirtschaft so gering<br />
wie möglich gehalten werden. Insbesondere dürfen die<br />
Anreize, wenn immer möglich eine angebotene Arbeit<br />
aufzunehmen und damit selbst Einkommen zu erzielen,<br />
nicht beeinträchtigt werden. Das erfordert schon das Gebot<br />
des fairen Ausgleichs zwischen solidarischem Beistand<br />
und individuellen Leistungsanreizen. Deshalb muß<br />
zwischen Sozialhilfe und Arbeitseinkommen ein Abstand<br />
eingehalten werden, was im Bundessozialhilfegesetz<br />
ausdrücklich verlangt wird und im Regelfall auch<br />
verwirklicht sein dürfte. Dort, wo der Abstand heute<br />
nicht eingehalten wird, ist dies meist eine Folge der Inkonsistenz<br />
bei der Berücksichtigung der Kinder in der<br />
Sozialhilfe (Kinderzuschläge) und bei Arbeitseinkommen<br />
(Kindergeld oder Kinderfreibetrag). Dieses Problem<br />
ließe sich allerdings relativ einfach lösen, wenn man zu<br />
einer Regelung beim Kinderlastenausgleich käme, die<br />
für alle Einkommensbezieher gelten würde, gleichgültig<br />
ob sie Markteinkommen oder Transfereinkommen erhalten<br />
(Ziffer 393).<br />
416. Der Abstand wird allerdings dadurch verringert<br />
und oft auch ins Gegenteil verkehrt, wenn es möglich ist,<br />
Einkommen zu erzielen, die entweder zwar legal sind,<br />
aber widerrechtlich nicht auf den Sozialhilfeanspruch<br />
angerechnet werden, oder die sogar das Ergebnis illegaler<br />
Aktivitäten – vor allem der Schwarzarbeit – sind. In<br />
diesen Fällen ist in der Regel das Einkommen aus Sozialhilfe<br />
und illegaler Tätigkeit in der Summe höher als<br />
das Einkommen, das bei Übernahme einer regulären<br />
Tätigkeit erzielt werden kann.<br />
Der Staat sollte selbst auch keine Anreize für die Aufnahme<br />
illegaler Tätigkeiten schaffen. Wir zählen dazu<br />
vor allem die hohe Steuer- und Abgabenlast. Die Einnahmen<br />
des Staates und der Sozialversicherungen fallen<br />
geringer aus, nicht nur weil bei illegalen Aktivitäten erst<br />
gar keine Abgaben gezahlt werden, sondern auch weil<br />
andere Leistungsanbieter am Markt verdrängt werden,<br />
was sich ebenfalls in sinkendem Aufkommen aus Steuern<br />
und Abgaben sowie im Verlust von Arbeitsplätzen<br />
niederschlägt. Sollen in dieser Situation die öffentlichen<br />
Leistungen aufrecht erhalten bleiben, dann müssen Steuern<br />
und Abgaben erhöht werden, was sogar eine weitere<br />
Welle von Schwarzarbeit auslösen könnte. Man wird<br />
diesen Problemen aber nicht durch Kontrollen und Strafandrohungen<br />
wirksam beikommen.<br />
417. Negative Anreizwirkungen sind vor allem dort zu<br />
erwarten, wo zwischen Sozialhilfe und den bei regulärer<br />
Tätigkeit zu erzielenden Einkommen kein hinreichender<br />
Abstand besteht. Das dürfte insbesondere für gering<br />
qualifizierte Arbeitslose der Fall sein. Angesichts der geringen<br />
Produktivität dieser Arbeitskräfte wird das am<br />
Markt zu erzielende Einkommen nicht oder nicht nennenswert<br />
über der Sozialhilfe liegen. Der Anreiz, neben<br />
der Sozialhilfe ein zusätzliches Arbeitseinkommen zu<br />
erzielen, wird zudem durch die geltenden Anrechnungsregeln<br />
abgeschwächt.<br />
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