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Dezember - Anwaltsblatt

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AnwBl 12/2005 751<br />

Thema MN<br />

6. Das Attentat in Erfurt 26.4.2002<br />

Am 26. April 2002 hatte ein 19-jähriger ehemaliger<br />

Schüler des Gutenberg-Gymansiums in Erfurt während eines<br />

Amokslaufs 16 Menschen und danach sich selbst erschossen.<br />

Ein Münchener Rechtsanwalt forderte umgehend Schadensersatz<br />

für Hinterbliebene und Geschädigte und zwar<br />

sowohl von den Behörden als auch vom Sportverein, in<br />

dem der Täter als Sportschütze Mitglied war. 30 Wenige<br />

Tage später drohte er dann damit, „Hersteller von Gewaltvideos<br />

und Waffen auf Schadensersatz zu verklagen“. 31<br />

Was daraus geworden ist, ist – zumindest mir – unbekannt.<br />

Man darf aber bei dem Drang des Anwaltes, nicht<br />

nur Erfolge, sondern schon Klagevorhaben öffentlich kundzutun,<br />

davon ausgehen, dass die erfolgreiche Durchsetzung<br />

der angekündigten Ansprüche der Öffentlichkeit nicht verschwiegen<br />

worden wäre.<br />

7. Der Flugzeugzusammenstoß über dem Bodensee am<br />

1.7.2002<br />

Am 1. Juli 2002 kollidierte eine Tupolew der Bashkirian<br />

Airways mit einem Frachtflugzeug vom Typ Boeing 757<br />

der DHL bei Überlingen am Bodensee. Alle 71 Insassen,<br />

darunter mehr als 50 Kinder und Jugendliche der Wolga-<br />

Republik Baschkortostan, die auf dem Weg in den Urlaub<br />

in Spanien waren, kamen ums Leben. Flugs flogen deutsche<br />

und US-amerikanische Anwälte nach Ufa, der Hauptstadt<br />

von Baschkortostan, um den Hinterbliebenen ihre<br />

Hilfe anzubieten. Natürlich wurde wieder öffentlich mitgeteilt,<br />

man prüfe, „ob wir eine Klage in den USA einreichen“.<br />

32<br />

Aus guten Quellen weiß der Verfasser, dass den Eltern<br />

dabei Entschädigungen von wenigstens 400.000 USD pro<br />

Opfer in Aussicht gestellt wurden. 33<br />

In einem Presseinterview wurde dann im September<br />

2002 die Forderung mit „mindestens 100.000 USD“ als<br />

„Untergrenze“ beziffert, ein Betrag von „900.000 USD<br />

oder mehr“ als „Glücksfall“ bezeichnet. 34 Auch zu diesem<br />

Zeitpunkt wird noch eine Klage in den USA erwogen. Dies<br />

wird dann knapp zwei Monate später bewertet: „Bei optimalen<br />

Verlauf wird mit bis zu einer Million US-Dollar pro<br />

Opfer gerechnet.“ 35<br />

Nur sieben Monate später berichtete die Presse im Juni<br />

2003, dass den Familien der Opfer je 150.000 USD (ca.<br />

123.000 EUR) erhalten haben 36 – eine Angabe, die sich<br />

auch mit den mir aus anderen Quellen bekannten Informationen<br />

deckt. Dabei kann es ich aber nicht um Schadensersatz<br />

handeln. Denn da die Eltern der tödlich verunglückten<br />

Kinder keinen materiellen Anspruch (z. B. auf<br />

Unterhalt) haben, kann es sich nur um ein Schmerzensgeld<br />

handeln.<br />

Den Hinterbliebenen ist das zu gönnen. Doch fragt sich,<br />

warum die deutsche Bundesregierung, die ein Hinterbliebenen-Schmerzengeld<br />

ablehnt, freiwillig einen erheblichen<br />

Betrag in einen Entschädigungsfonds einzahlt, wenn aus<br />

diesem erkennbar nur Schmerzensgeld für Hinterbliebene<br />

gezahlt wird. 37<br />

III. Fazit<br />

1. Es bleibt sachlich festzustellen, dass in den angeführten<br />

Fällen – soweit ersichtlich – die vollmundig angekündigten<br />

Millionen-Dollar-Entschädigungen nicht erstritten<br />

werden konnten. Den Fachmann überrascht das nicht.<br />

2. Damit aber die vorstehenden Ausführungen nicht zu<br />

Missverständnissen führen, soll folgendes klargestellt werden:<br />

a. Mit diesem Beitrag soll nicht in Zweifel gezogen werden,<br />

dass ein verantwortlicher Rechtsberater stets auch prüfen<br />

muss, ob eine Klage in den USA möglich ist, wenn<br />

sich dafür vernünftige (!) Anhaltspunkte ergeben. Nachdem<br />

z. B. das Montrealer Übereinkommen neben dem allgemeinen<br />

Gerichtsstand des Bestimmungsortes (Art. 33 Abs. 1<br />

MÜ) auch den neuen Gerichtsstand des Wohnsitzes (Art. 33<br />

Abs. 2 MÜ) eingeführt hat, ist diese Möglichkeit jedenfalls<br />

bei internationalen Luftbeförderungen stets zu bedenken.<br />

Aber natürlich muss der Anknüpfungsgrund seriös sein und<br />

dem Risiko der Klageabweisung unter der „Forum-nonconveniens“-Doktrin<br />

der US-Jurisprudenz 38 Rechnung getragen<br />

werden.<br />

b. Der Beitrag sollte keineswegs als Angriff oder Häme<br />

gegen Schmerzensgeldforderungen von Geschädigten und<br />

Hinterbliebenen verstanden werden. Der Verfasser hat<br />

schon mehrfach darauf hingewiesen, dass nach seiner Auffassung<br />

das deutsche Schmerzensgeldsystem stark entwicklungsbedürftig<br />

ist. 39 Es ist nicht verständlich und richtig,<br />

dass bei Verletzung der Ehre eine Entschädigung in Betracht<br />

kommt, nicht aber wenn die Psyche verletzt wird.<br />

Wenn Gerichte für ein getürktes Interview mit einem Prominenten<br />

oder wegen der Ablichtung eines Nacktfotos eines<br />

solchen Schmerzensgelder in Höhe von mehr als<br />

100.000 EUR ausurteilen, ist es nicht nachzuvollziehen,<br />

warum für den Tod eines Menschen allenfalls Beträge um<br />

15.000 EUR (wie im Falle Eschede) zugebilligt werden.<br />

Und dass nach den Vorstellungen des Gesetzgebers Hinterbliebene<br />

keinen eigenen Schmerzensgeldanspruch haben<br />

sollen, erscheint mir gerade auch mit Blick in die Nachbarstaaten<br />

Deutschlands nicht mehr zeitgemäß.<br />

Überzogene, oft unrealistische Forderungen, die in erster<br />

Linie auf Wirkung in der Öffentlichkeit ausgerichtet sind,<br />

sind aber für die Erreichung des Zieles, das deutsche<br />

Schmerzensgeldsystem zu verbessern und wenigstens dem<br />

europäischen Durchschnittsstandard anzupassen, kontraproduktiv.<br />

Denn durch ständige Drohung mit einer Klage in<br />

den USA, auch wenn die Chancen der Anspruchsdurchsetzung<br />

aussichtslos oder gering sind, macht auch die beste<br />

„Waffe“ stumpf.<br />

30 Siehe RZ-online vom 30.4.2002, www.rhein.zeitung.de/on/02/04/30/topnews/erfurt-ermittng.html.<br />

31 Werner Kolhoff, in: Berliner Zeitung vom 2.5.2002 (Ressort Politik).<br />

32 Roland Mutschler, „Staranwalt kämpft um Millionen“, in: Mannheimer Morgen<br />

vom 5.9.2002. Siehe auch Stuttgarter Nachrichten vom 11.9.2002.<br />

33 Dieser Betrag spiegelt sich auch in den veröffentlichten Forderungen von 4,8<br />

Mio. USD für die 12 Besatzungsmitglieder wieder. Siehe Meldung des ZDF<br />

vom 12.9.2002www.heute.t-online.de/ZDFheute/<br />

34 Stuttgarter Nachrichten vom 12. und 13.9.2003.<br />

35 Stuttgarter Nachrichten vom 5.11.2002<br />

36 Pressemeldung des AFP zitiert nach www.politikforum.de/archive/6/2004/<br />

06/4/22775. Siehe auch die Meldung der SF DRS SDA-News vom 30.6.2004.<br />

37 Dazu Schmid, RRa 2003, 145.<br />

38 Siehe dazu Ehlers, in: Müller-Rostin/Schmid, Das Luftverkehrsrecht vor neuen<br />

Herausforderungen. Festgabe für Edgar Ruhwedel (Neuwied 2004), S. 99 ff.<br />

39 Vgl. MDR 2000 (Heft 23), S. R 1.

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