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Dezember - Anwaltsblatt

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AnwBl 12/2005 781<br />

Mitteilungen MN<br />

Kostenrecht<br />

Prozessverlust und Kostentragung<br />

– ein zeitgemäßes<br />

Abhängigkeitsverhältnis?<br />

Ein rechtshistorisches Exempel<br />

Rechtsanwältin Dr. Annette Rieck, Kiel<br />

Es gibt juristische Fragen, an denen sich schon Generationen<br />

abgearbeitet haben. Manche Lösung erscheint uns<br />

heute selbstverständlich, ist es aber keineswegs. Der<br />

rechtsgeschichtliche Essay wirft ein Blick auf das Prinzip<br />

der Kostenerstattung bei Prozessverlust.<br />

„The opera ain’t over, ’til the fat lady sings“, sagt in<br />

Amerika ein populäres Wort. Für Juristen: Ein gerichtliches<br />

Verfahren geht nicht zu Ende,<br />

bevor eine richterliche Entscheidung<br />

über die Kosten ergangen<br />

ist. Denn der allgemein in den<br />

§§ 91 ff. ZPO geregelte prozessuale<br />

Kostenerstattungsanspruch<br />

entsteht – nur und immer – mit<br />

Erlass des Urteils und wird mit<br />

dessen Rechtskraft fällig. Das<br />

Prinzip des „No fee, no law“ und<br />

die Tatsache, dass dem Richter<br />

auch die Entscheidung über die<br />

Kosten des Verfahrens obliegt,<br />

ist für die meisten Praktiker derart<br />

selbstverständlich, dass sie an<br />

die „Akzessorietät“ von Sach<br />

und Kostenentscheidung keinen<br />

Gedanken verwenden.<br />

Soweit, so gut: Infrage gestellt<br />

wird indes der Grundsatz<br />

des § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO, dass<br />

die unterliegende Partei die Kosten<br />

des Rechtsstreits zu tragen<br />

habe. Er basiert auf der Vermutung,<br />

der Unterlegene habe<br />

grundsätzlich widerrechtlich gestritten.<br />

Das starr anmutende Junktim<br />

von Prozessverlust und Kostentragung<br />

ist ohne einen Blick auf<br />

seine Entstehung nicht angemessen<br />

zu beurteilen. Es findet sich<br />

in der abendländischen Rechtsgeschichte<br />

erstmals im Corpus<br />

iuris civilis des römischen Kaisers<br />

Justinian I., dort im ersten<br />

Teil „Institutionen“ aus dem Jahr<br />

533. Sein fast anderthalb Jahrtausende<br />

langer Weg in unsere ZPO<br />

begann mit einer beinahe 500jährigen<br />

Vergessenheit. Das Werk<br />

Justinians war in der Rechtspraxis<br />

des westlichen Europa niemals<br />

beachtet worden, der Text<br />

dementsprechend unbekannt.<br />

Mittelalter: Buße statt Prozesskosten<br />

Die praktische Rechtsfindung verlief vielmehr in den archaischen<br />

Bahnen des bis ins 12. Jahrhundert weitgehend<br />

unveränderten mittelalterlichen Zivilprozesses: Der Richter<br />

führte die Verhandlung unter der Dorflinde, die Schöffen<br />

sprachen das Urteil. Die „dingpflichtigen“ freien Männer<br />

bildeten den „Umstand“, der das Urteil undiskutiert bekräftigte<br />

oder schalt. Das Verfahren selbst war durch altertümliche<br />

Formalismen verkompliziert. Kläger und Beklagter<br />

mussten bestimmte Worte sprechen und diese mit vorgeschriebenen<br />

Gesten und symbolischen Handlungen begleiten.<br />

Ein einziger Fehler hierbei konnte den Prozessverlust<br />

bedeuten. Das Beweisverfahren mit Eidesleistung,<br />

Gottesurteilen und gerichtlichem Zweikampf war schwerfällig.<br />

Was im Urteilsspruch ohne Gründe als Recht festgestellt<br />

worden war, zweifelte man nicht an. Fragen nach Sinn und<br />

Zweck, Geltungsgrund oder Nutzen einer überlieferten<br />

Norm wurden nicht gestellt, denn das Recht war nicht Gegenstand<br />

rationaler Betrachtung, es wurde geglaubt und<br />

Die Abbildung stammt aus der Dresdener Bilderhandschrift des Sachsenspiegels, die zwischen<br />

1295 und 1363 im Raum Meißen entstanden ist. Die Bilder dienen nicht der Illustration des<br />

vorstehenden Textes, sondern zeigen für den Fall des Lehens, welch komplizierte Gesten und<br />

Handlungen im Mittelalter Voraussetzung für die formelle Wirksamkeit von Rechtsakten waren.

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