Philosophische Behandlung von Psychotherapie – Indikationen, Risiken und NebenwirkungenWas ist nun schlimmer? WirklichkeitsverdünntesPhilosophieren – oder philosophischverdünntes Psychotherapieren? Diebeste Devise ist sicher, nach Möglichkeitbeide Mängel zu vermeiden.Wer als Psychologe eine psychotherapeutischrelevante „integrative“ Theorie desDenkens entwerfen will, wie z. B. Wilfred Bion,oder eine Theorie der Mentalisierung,wie Peter Fonagy, es dabei aber unterlässt,sich tiefer mit dem zeitgenössischen philosophischenDiskurs über das „Denken desDenkens“, etwa in der Philosophie des Geistes,15 auseinandersetzen, wird philosophischfadenscheinige psychologische Theorie produzieren.Wer über Achtsamkeit, Selbstaufmerksamkeitund Körperbewusstsein etwaim Feld einer „erweiterten“ oder „integrativen“Verhaltenstherapie nachdenkt, 16 aberdie reichen Erträge philosophischer und philosophisch-psychiatrischerForschungen zurbetreffenden Phänomenologie kaum kennt, 17wird bestenfalls neue Terminologien undKräuselungen auf der Oberfläche der „Psychotherapierichtungen“und „Psychotherapieschulen“bewirken.Anthropologie undRationalität: Schnittstelleund BaustelleKommen wir auf das alte Projekt einer Wissenschaftvom Menschen zurück, das icheingangs als ein Desiderat der europäischenAufklärung erwähnt hatte. DiesesProjekt erscheint weder sinnlos noch gescheitert,sondern nur aufgeschoben. DieWissenschaft vom Menschen ist ein unvollendetesProjekt der Moderne. Und wirkönnen versuchen, es weiterzubringen.Ich meine, die psychotherapeutische Aufklärungsollte massive Folgen für die anthropologischenPrämissen haben, die jaunweigerlich in alle Humanwissenschafteneingehen, ob die Humanwissenschaftenihre Grundannahmen über das für Menschenangeblich Normale und Natürlichenun beherzt einbekennen oder aber ausfalscher Scham vor dem scharfen Blickheutiger Antihumanisten und radikaler wissenschaftlicherNaturalisten, die im Zeitgeistgerade den Ton angeben, solcheGrundannahmen und Menschenbilderverdecken zu müssen glauben.Wo sind Indikationen für die Behandlungder Philosophie mit Mitteln der psychotherapeutischenAufklärung auszumachen?Wo innerhalb der Philosophie wäre ansetzenund weiterzubehandeln?Am besten direkt am Zentralkomplex derPhilosophie, das ist: die philosophischeTheoriearbeit über Vernunft, Verstand, Rationalität.Philosophie war und ist selbstkritischeErforschung der menschlichen Vernunftdurch diese selbst, also Vernunftselbsterforschung.Wer philosophisch aufder Höhe der Zeit ist, wird aber Vernunftkaum mehr abgetrennt von der bio-psycho-kulturellenVerfassung menschlich sozialisierterPersonen denken wollen. Philosophischaussichtsreich erscheint heutedie Strategie, menschliche Vernunft an ihrenWurzeln mit den Praktiken des Ergründensund Gründegebens zusammenzudenken,mit Praktiken also, die sich alssolche nicht unter den Gehirnschalenmenschlicher Lebewesen abspielen, sondernsich nur in zwischenmenschlichenKommunikationsgemeinschaften menschlicherLebewesen verwirklichen können.In der Philosophie der Rationalität und derPsychologie der Psychotherapie sollten wirkeine Antipoden sehen. Von der neueren,kognitiv und attentiv gewendeten Verhaltenstherapie,wie schon in der verhaltenstherapeutischenRichtung, die sich „rational-emotiveTherapie“ nannte und auf diephilosophische Anthropologie der antikenStoiker zurückbezog, bis hin zu psychoanalytischenAuffassungen von seelischer Gesundheit,den Möglichkeiten ihres Schwindensund ihrer Rückgewinnung – überallhat man es mit Konzeptualisierungen zutun, in die neben Annahmen über emotionaleVorgänge auch Annahmen übermenschliche Fähigkeiten der vernünftigenSelbststeuerung (Autonomie) eingehen.Gefühle, auch unbewusste, wie besondersdie psychoanalytische Objektbeziehungstheoriezeigt, gehören durchaus zum Fundusder rationalisierbaren Motivation vonPersonen. Gefühle, auch unbewusste Gefühle,haben Gründe und zugleich gebensie den Personen, die die Gefühle haben,Gründe zu allerlei. Insofern sind Gefühlekein Jenseits des Spiels der Gründe, sonderngehören mitten hinein in dieses Spiel.Auch Gefühle sind kritisierbar, empfänglichfür Handlungs- und Bewertungsgründe.Unser Gefühlsleben ist mehr oder wenigerreason-responsive. 18 Menschliche Affektivitätund rationale menschliche Motivation,auch wenn sie nicht ineinander aufgehen,bilden keinen Gegensatz. Blaise Pascalhatte Recht: Le coeur a ses propres raisonsqui la raison ne connaît point.Gefühle können ihrerseits auch Gründe besetzenund verschaffen diesen dadurchgleichsam fühlende Körper (Kettner, 2009).An gewissen Handlungs- und Bewertungsgründenkann einem sehr viel liegen, siekönnen Gewicht erlangen, zu festen Überzeugungenwerden, die man vielleicht umkeinen Preis aufgeben will und an denen –im pathologischen Extrem – zwanghaft undwahnhaft festgehalten wird. Andere Gründekönnen einem verhasst sein, man will sienicht wahr haben. Wieder andere Gründekönnen einen völlig unberührt lassen, wennsie in der subjektiv-intersubjektiven Welt allder Gründe, die ein Individuum richtig,wichtig und gültig findet und die insofern„seine“ Welt ist, keine Resonanz, keine Spurvon persönlicher Denkbarkeit finden.Und so können wir nicht nur sagen, dassGefühle für Gründe empfänglich sind (reason-responsiveness,Fischer & Ravizza,1998), sondern wir können dies mit derwichtigen Umkehrung ergänzen, dassGründe ihrerseits auch emotion-responsivesind – empfänglich für Gefühle.Das animal rationale ist eben nicht bloßdas Tier, das seine Gründe hat. Vielmehrist das animal rationale dasjenige Tier, daszudem Gefühle und auch für diese nochseine Gründe hat (Kettner, 2012).LiteraturBoss, M. (1979). Von der Psychoanalysezur Daseinsanalyse. Wege zu einem15 Eine auch für die Psychologie und Psychotherapieinteressante Synthese versucht derPhilosoph Wolfgang Detel, 2011.16 Als Überblick über die aktuelle Deregulierungder VT siehe Hayes, Folette & Lineham(Hrsg.), 2012.17 Vgl. z. B. Thomas Fuchs, 2010.18 Aktuell siehe hierzu Slaby, Stephan, Walter &Walter, 2011.244 <strong>Psychotherapeutenjournal</strong> 3/<strong>2013</strong>
M. Kettnerneuen Selbstverständnis. Zürich: Europaverlag.Boss, M. (1999). Grundriss der Medizinund der Psychologie. Ansätze zu einerphänomenologischen Physiologie, Psychologie,Pathologie, Therapie und zueiner daseinsgemässen Präventiv-Medizin.Bern: Huber Verlag.Boss, M. (Hrsg.) (2006). Zollikoner Seminare:Protokolle – Zwiegespräche –Briefe (3. Aufl.). Frankfurt: Klostermann.Boss, M. (2007). Psychanalyse et analytiquedu Dasein. Paris: Librerie PhilosophiqueVrin.Detel, W. (2011). Geist und Verstehen.Frankfurt: Klostermann.Döring, H. & Kaufmann, F.-X. (Hrsg.)(1981). Kontingenzerfahrung und Sinnfrage.Freiburg: Herder Verlag.Fiedler, P. (2010). Verhaltenstherapie monamour. Mythos – Fiktion – Wirklichkeit.Stuttgart: Schattauer.Fischer, J. M. & Ravizza, M. (1998). Responsibilityand Control: A Theory ofMoral Responsibility. Cambridge: CambridgeUniversity Press.Fuchs, T. (Hrsg.) (2010). The embodiedself. Dimensions, coherence and disorders.Stuttgart: Schattauer.Grünbaum, A. (1988). Die Grundlagen derPsychoanalyse. Eine philosophischeKritik (Original erschienen 1984: TheFoundations of Psychoanalysis). Stuttgart:Reclam.Grünbaum, A. (1993). Validation in theClinical Theory of Psychoanalysis: AStudy in the Philosophy of Psychoanalysis.Michigan: International UniversitiesPress.Hayes, S. C., Folette, V. M. & Lineham, M. M.(Hrsg.) (2012). Achtsamkeit und Akzeptanz.Das Erweitern der kognitiv-behavioralenTradition. Tübingen: Dgvt-Verlag.Hinz, H. (2000). „Konstruktion – Rekonstruktion“des Psychoanalytikers. In W.Mertens & B. Waldvogel (Hrsg.), Handbuchpsychoanalytischer Grundbegriffe(S. 389-393). Stuttgart: Kohlhammer.Holzhey-Kunz, A. (1994). Leiden am Dasein.Die Daseinsanalyse und die Aufgabe einerHermeneutik psychopathologischerPhänomene. Wien: Verlag Passagen.Holzhey-Kunz, A. (2002). Das Subjekt inder Kur. Über die Bedingungen psychoanalytischerPsychotherapie. Wien: VerlagPassagen.James, W. (1890). The Principles of Psychology.New York/London: Holt andMacmillan.James, W. (1909). The meaning of truth, asequel to “Pragmatism”. New York/London:Longmans, Green & Co.Kettner, M. (1998). Zur Semiotik der Deutungsarbeit.Wie sich Freud mit Peircegegen Grünbaum verteidigen läßt. Psyche7, 619-647.Kettner, M. (2009). Was macht gute Gründezu guten Gründen? In P. Janich (Hrsg.),Naturalismus und Menschenbild. DeutschesJahrbuch Philosophie (Bd. 1,S. 257-275). Hamburg: Felix Meiner.Kettner, M. (2012). Gründe und Affekte. InJ. Nida-Rümelin & E. Özmen (Hrsg.),Welt der Gründe. Deutsches JahrbuchPhilosophie (S. 444-454). Hamburg:Felix Meiner.Längle, A. & Holzhey-Kunz, A. (2008). Existenzanalyseund Daseinsanalyse.Wien: Facultas-WUV.Levy, D. (1996). Freud amongst the philosophers.The Psychoanalytic Unconsciousand its Philosophical Critics. NewHaven: Yale University Press.McEachrane, M. (2009). Capturing emotionalthoughts: the philosophy of cognitive-behavioraltherapy. In Y. Gustafsson,C. Kronqvist & M. McEachrane(Eds.), Emotions and Understanding.Wittgensteinian Perspectives (S. 81-100). Basingstoke: Palgrave Macmillan.MacIntyre, A. (1958, revised edition 2004).The Unconscious: A Conceptual Study.London: Routledge.Nagel, T. (1984). Das Subjektive und dasObjektive. In Ders., Die Grenzen derObjektivität. Philosophische Vorlesungen(S. 99-127). Stuttgart: Reclam.Orange, D. M., Atwood, G. E. & Stolorow, R.D. (2001). Intersubjektivität in der Psychoanalyse.Frankfurt: Brandes & Apsel.Popper, K. P. (1962). Conjectures and Refutations.N. Y.: Basic Books.Robertson, D. (2010). The philosophy ofcognitive behavioural therapy (CBT).Stoic philosophy as rational and cognitivepsychotherapy. London: KarnacBooks.Rorty, R. (1988). Solidarität oder Objektivität.Drei philosophische Essays. Stuttgart:Reclam.Scheffler, S. (1992). Psychoanalysis andMoral Motivation. In J. Hopkins & A.Savile (Hrsg.), Psychoanalysis, Mindand Art: Perspectives on the Philosophyof Richard Wollheim (S. 87-100). Oxford:Blackwell.Schorr, A. (1984). Die Verhaltenstherapie.Ihre Geschichte von den Anfängen biszur Gegenwart. Weinheim: Beltz.Slaby, J., Stephan, A., Walter, H. & Walter,S. (2011). Affektive Intentionalität. Beiträgezur welterschließenden Funktionder menschlichen Gefühle. Paderborn:mentis.Tetens, H. (2009). Wittgensteins ‚Tractatus‘.Ein Kommentar. Stuttgart: Reclam.Wittgenstein, L. (1991). Vorlesungen überdie Philosophie der Psychologie1946/47. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.Wittgenstein, L. (1998). Logisch-philosophischeAbhandlung, Tractatus logicophilosophicus.Kritische Edition. Frankfurta. M.: Suhrkamp.Wittgenstein, L. (2000). Vorlesungen undGespräche über Ästhetik, Psychoanalyseund religiösen Glauben. Frankfurt a.M.: Fischer.Wittgenstein, L. (2001 [orig. 1953]). PhilosophischeUntersuchungen. KritischgenetischeEdition. Frankfurt a. M.:Suhrkamp.Prof. Dr. Matthias Kettner, Dipl.-Psych.,lehrt Praktische Philosophie an der UniversitätWitten/Herdecke. Er forscht über Kulturtheorie,Psychoanalyse, Ethik und Rationalität.Prof. Dr. Dipl.-Psych. Matthias KettnerPrivate Universität Witten/HerdeckeAlfred-Herrhausen-Straße 5058448 Wittenkettner@uni-wh.de<strong>Psychotherapeutenjournal</strong> 3/<strong>2013</strong>245