<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>30begreifen lässt, und einer Gotteserfahrung, die mir die Grösse und Weite seines Erbarmens vorAugen führt und ins Herz legt, dann wähle ich wahrscheinlich eher die Erfahrung als das Bild.3.2.3 Stationen im LabyrinthRilke sagt einmal mit Blick auf Gott:„Aber der Weg zu dir ist furchtbar weit und, weil ihn lange keiner ging, verweht.“Das passt sehr gut zum Labyrinth: ein furchtbar langer Weg, undwenn auch nicht zugedeckt und verweht, so sieht man doch nichtwirklich hindurch. Vielen mag das Labyrinth in der Kathedrale vonChartres bekannt sein. Es ist in der Kirche im Boden eingelassen.Man sagt, dass zu früherer Zeit die Mönche im Gebet den Weg imLabyrinth nachgegangen sind, so wie viele Menschen es heute alsTouristen tun. Das Labyrinth ist Sinnbild für die verschlungenenWege des Menschen zu seiner Mitte. An manchen Stellen meintman, dieser Mitte schon ganz nahe zu sein – da wendet sich derWeg plötzlich wieder in die andere Richtung und führt weg von Ziel. Umkehren? Eine Abzweigungübersehen? Aber es gab doch keine! Aufgeben, weil man offensichtlich nie zum Ziel kommt? Nein,weitermachen – und dann plötzlich, unerwartet, nach einer Wendung in der Mitte stehen. Wenndieses Labyrinth in einer Kirche zu finden ist, dann wundern wir uns nicht, wenn die Mitte Gottsymbolisiert. Ich möchte vier Stationen in so einem Labyrinth ansprechen und deuten, was sie unsüber Gott sagen können.• Am Rand: Es mag mir manchmal so vorkommen, als stände ich irgendwo am Rand und Gottwäre weit weg. Ich habe vielleicht den Eindruck, er interessiert sich gar nicht für mich.Womöglich habe ich an diesem Ort die Gottesfrage bereits drangegeben, weil ich keinenEingang, keinen Zugang dazu finde. Was kann ich hier noch von Gott erhoffen? Wir haben dieFrage von John Newman noch im Ohr. Häufig finde ich mich in dieser Position wieder, wennich gar nicht mehr zu hoffen wage, in meinem Glauben könnte etwas wachsen oder Gottkönne mir irgendwie auch nur nahe kommen. Ganz draussen führt kein Weg vorwärts. Voreiniger Zeit hat mir jemand gesagt, in Sachen Glaube stände er auf stand-bye. Das betrifftviele von uns heute. Aber gerade an diesen Rändern erlebe ich ja mit Gott doch auch diegrössten Überraschungen. Wir denken Gott immer in der Mitte des Labyrinths unsersLebens, aber erfahren lässt er sich gern an den Rändern.• Im Gang: Manchmal komme ich mir im Glauben vor wie in einem langen Gang, ich kann weitvoraussehen, was kommt, und der Glaube läuft ordentlich seinen Weg. Ich habe fast eherden Eindruck, ich laufe und laufe und komme nicht wirklich irgendwo an. Alles geht langsamso weiter. Ich habe vorhin den Weg der Emmausjünger erwähnt. Das ist auch so ein langerWeg, auf dem Jesus den beiden alles aus der Schrift erläutert. Das dauert lange. Wenn ichmich in Gottesbilder vergrabe und mein Denken bemühe, wenn ich Gott versuchen zuerfassen und auch nur annähernd zu begreifen, dann kann ich mich häufig auf so einem Wegfühlen, der scheinbar kein Ende nimmt. Das Schöne an diesen Wegstrecken ist, dass ich denEindruck habe, immer weiter zu kommen. Ich merke, dass ich einiges auf meinemGlaubensweg hinter mich bringe und mich daher dem Ziel ja nähere. Aber das Ganze dauertauch. Hier spreche ich mit Rilke: „Der Weg ist furchbar weit.“• In der Kurve: Wie im richtigen Leben so erleben wir im richtigen Glauben auchWendepunkte. Das kann unsere Gottesvorstellung betreffen. Ich erinnere an den anderenGott bei Tolstoi: Ich habe mir Gott so hölzern vorgestellt und irgendwann laufe ich auf diese
<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>31Wand zu und muss einräumen, dass meine Vorstellung von Gott etwas verkehrt. Aber ichbleibe nicht einfach stehen, ich laufe auch nicht raus, ich wende mich einmal, drehe mich imKreis und sehe, dass auf der einen Seite der Weg in eine andere Richtung weitergeht. Dortgeht mein Fragen nach Gott weiter. Ich erinnere auch an Menschen wie John Newton oderAndré Frossard, die aus einer Not heraus oder aus „Zufall“ einen Wendepunkt in ihremGlaubensleben erfuhren. Ich merke, dass ich verunsichert bin, ob ich hier wirklich richtig bin,ob ich etwas übersehen habe. Ich werde herausgefordert.• In der Mitte: Wie ist es, in die Mitte zu Gott zu treten? Wie ist es, Gott als so nah zu erleben?Wenn ich Gott so nah spüre, wenn ich mir in diesem Moment seiner Gegenwart gewiss seinkann, dann kann mich ein Staunen überkommen. Langsam wandelt sich meineÜberraschung, nach der letzten Kurve plötzlich und endlich dieses Ziel erreicht zu haben inDankbarkeit um. An dieser Stelle geht mir das Herz auf, und ich erahne, wie weit Gott ist. Ichbin sicher, die Evidenz von Gott steht mir vor Augen. Eine Freude zieht bei mir ein, so dass ichähnlich den Emmausjüngern mir sage: „Mir brennt das Herz, es brannte mir schon die ganzeZeit!“ Ist mir klar, dass Gott seinen Mittelpunkt überall hat, und nicht nur in der Mitte?KonkretBevor wir in diesem Sinne eine Übung angehen, fasse ich kurz und knapp einige Punkte des bisherGesagten zusammen:• Wo stellt sich mir die Gottesfrage? Habe ich unterwegs abgebrochen oder geht das weiter?Stellt sich mir die Frage eher im Bereich von Kunst-Musik-Literatur-Träume, oder eher imBereich von Wissenschaft-Vernunft-Denken?• Gottesbilder und Gotteserfahrung sind zwei verschiedene Schuhe, die sehr gutzusammenpassen.• Die Frage zu stellen, ein Bild zu finden, eine Erfahrung zu machen - all das kann an sehrunterschiedlichen Lebenspunkten in meinem Leben auftauchen.3.3 ÜbungWir haben einiges davon gehört, was es heisst nach Gott zu fragen. Ich möchte einladen, dass wirGott einfach um eine Antwort bitten. Wir machen das folgendermassen:• Gehen Sie an jeden dieser vier Orte: an den Rand, auf die lange Bahn, in eine Kurve und indie Mitte!• Bleiben Sie einen Moment dort an diesen vier Stationen und überlegen sich, ob Sie dieseSituation in Ihrem Leben kennen. Vielleicht können Sie sagen: Ja, am 23. März im Jahre 2003war ich genau in dieser Situation. Fühlen Sie sich einen Moment in diese Situation ein!• Überlegen Sie, was Gott Ihnen auf die Ihre Frage nach Gott antwortet!Zur Verdeutlichung: Die Aufgabe besteht nicht darin, ein ganzes Labyrinth abzulaufen, langsam, hierund da stehen zu bleiben und in sich selbst hineinzuhorchen. Es geht gar nicht um Sie! Sie bringensich nur ein, um sich in die jeweilige Situation einzufühlen und deswegen überlegen Sie, ob und wound wie Sie diese Situation kennen. Jetzt geht es einfach nur darum, dass Gott mir eine Antwort gibt,die ich ihm diesmal in den Mund legen darf.3.4 Gruppenaustausch