<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>62Bedürfnisse an die Welt um sich herum gestellt hat, ein Kind, das lernte, diese zu artikulieren undzuweilen auch auszuhalten, dassmanche Bedürfnisse auf sichwarten lassen. Vom inneren Kind zureden ist nicht nur das Schöne, dasGeborgene, das Gemütliche. Dasinnere Kind kann eben auchmanchmal schrecklich verletzt sein,kann zuweilen ein rechter,rücksichtsloser Tyrann sein.6.2.3 Kindlichkeit als spiritueller WegWenn erwachsen <strong>glauben</strong> heisst, immer mehr Kind vor Gott zu werden, dann ist dieAuseinandersetzung mit dem inneren Kind wichtig. Den Glauben, den ich als Kind hatte, kann ichebenso wieder mit ins Boot holen, das ich als <strong>Erwachsen</strong>er steuere.Ein Text von Tolstoi:„Werden irgendwann jene Frische, jene Sorglosigkeit, jenes Bedürfnis nach Liebe und jeneKraft des Glaubens wiederkehren, die ich in meiner Kindheit unbewusst besessen hatte?Welche Zeit kann besser sein als die, in der die zwei besten Tugenden: unschuldige Heiterkeitund unbegrenztes Liebesbedürfnis, die Hauptantriebe im Leben sind? Wo sind jene kühnenGebete zu Gott geblieben? Wo blieb jene beste Gabe - jene reinen Tränen der Rührung? DerSchutzengel kam herbeigeflogen, lächelnd wischte er diese Tränen ab und hauchte süsseTräume ein. Hat wirklich das Leben so schwere Spuren in meinem Herzen zurückgelassen,dass für immer diese Entzückung und diese Tränen von mir schieden und einzig und allein dieErinnerung zurückblieb?“ 15Tolstoi nennt hierbei eine ganze Reihe von wichtigen Facetten, die der Kindheitsglaube birgt: Frische,Sorglosigkeit, Liebesbedürfnis, Glaubenskraft, Heiterkeit, Kühnheit im Gebet, Tränen der Rührung.Nach unserem Seitenblick auf die Arbeit mit dem inneren Kind mögen wir an diese Liste einfach nochdie Offenheit, die Spontaneität, die Freude anhängen. Wenn wir nun nach Ansätzen für eineKindlichkeit als spirituellen Weg fragen, so wird es sicherlich auch hier darum gehen, denKindheits<strong>glauben</strong> wieder mit ins Boot zu holen. Es geht auch darum, nach den Massstäben Jesu insReich Gottes zu kommen.Um dies auszuführen, möchte ich auf zwei Beispiele eingehen, einmal die kleine Theresia von Lisieux,zum anderen den Gründer des Schönstattwerkes, Joseph Kentenich.Heilige Therese von LisieuxWer ist Therese von Lisieux? 16 Je nach Blickwinkel gibt es daraufsehr verschiedene Antworten: ein überbehütetes Mädchen ausstreng-katholischem, betont fromm, aber eben auchkleinbürgerlich eng wirkendem Elternhaus, das im ausgehenden19. Jahrhundert mit 15 Jahren in den Karmel eintrat und gut neunJahre später qualvoll an Tuberkulose starb. Therese hatte ein sehrempfindsames Gemüt. Diese hohe Sensibilität machte sie nicht nur15 Leo N. Tolstoi, Kindheit, 74f.16 Vgl. Therese von Lisieux, Selbstbiographie; Guy Gaucher, Chronik eines Lebens. Therese Martin.
<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>63besonders liebesfähig und liebesbedürftig, sondern sie bescherte ihr auch viel seelisches Leid. DerVerlust der Mutter mit vier Jahren und der Ersatzmutter, ihrer geliebten Schwester Pauline, mit neunJahren hinterliessen tiefe Wunden in der zarten Kinderseele. Psychosomatische Beschwerden,neurotische Nöte, Überempfindlichkeit, Ängstlichkeit, durch ihre religiöse Erziehung geförderteSkrupelhaftigkeit - mit all dem war Therese vertraut. Befreiung und Heilung fand sie in dem Masse,wie ihr der zärtlich liebende Gott Jesu aufleuchtete. Dieses Gottesbild stand diametral gegenüberdem damals weit verbreiteten, strengen Richtergott, aber es begegnete ihr auf jeder Seite desEvangeliums: „Ich finde nichts mehr in Büchern ausser im Evangelium, das genügt mir.“ AuchGlaubensnot ist ihr nicht erspart geblieben. Die letzten eineinhalb Jahre ihres Lebens waren nicht nurvon schweren körperlichen Leiden geprägt, die durch die fortschreitende Tuberkulose zunehmendGeschwächte ging darüber hinaus durch eine tiefe Glaubensnacht:„In den so frohen Tagen der Osterzeit liess Jesus mich fühlen, dass es tatsächlich Seelen gibt,die den Glauben nicht haben ... Er liess zu, dass dichteste Finsternisse in meine Seeleeindrangen ... Man muss durch diesen dunkeln Tunnel gewandert sein, um zu wissen, wiefinster er ist.“Nicht jugendlicher Überschwang, sondern in tiefster Not gereifte Hingabe liess sie ausrufen, dass ihrnur mehr eines wichtig sei: „lieben, bis ich vor Liebe sterbe.“ (ebd.) Das ist der Kern ihrer Botschaft:Therese ist zutiefst überzeugt, dass unser Leben keinen anderen Sinn hat als den, liebende Menschenzu werden. Sie möchte keine Gelegenheit auslassen, um Jesus „mit kleinen Dingen Freude zumachen“ und vor allem, um ihre Mitmenschen so lieben zu lernen, wie Gott sie liebt: „Ich begreife,dass die vollkommene Liebe darin besteht, die Fehler der anderen zu ertragen, sich nicht über ihreSchwächen zu wundern, sich an den kleinsten Tugendakten zu erbauen.“ Dem geht aber etwasvoraus: So lieben lernen kann nur, wer sich vom Urgrund des Lebens selbst - von Gott - umsonst undbedingungslos geliebt weiss, vor jeder Leistung und unabhängig von allem Versagen. Wie wohl diemeisten Menschen musste Therese um dieses restlose Vertrauen ringen, aber sie hat immer tiefererfahren, dass es ihr Flügel verlieh.Der geistliche Weg der kleinen Thérèse ist der Weg der geistlichen Kindschaft, er wird auch "derkleine Weg" genannt. "Klein" nennt man diesen Weg, weil er zum einen nichts "Aussergewöhnliches"fordert und daher von jedem Menschen gegangen werden kann. Zum anderen, weil der Menscheingeladen ist, seine eigene Armut und Kleinheit bewusst zu bejahen, um von Gott die wahre Grössezu erlangen, die er denen verleiht, die sich von ihm abhängig machen. Es ist ein Weg des Vertrauensund der Hingabe an den Willen des Vaters, der den ganzen Menschen fordert und in Dienst nimmt.Nicht das "Aussergewöhnliche", sondern das "Gewöhnliche" aussergewöhnlich gut zu vollbringenwar ihr Leitbild. Therese schreibt oder eher lässt diese Worte gegen Ende ihres Lebens aufschreiben:„Die Heiligkeit besteht nicht in dieser oder jener Übung. Sie besteht in einerHerzensbereitschaft, die uns demütig und klein in den Armen Gottes macht, in der wir unsunserer Schwäche bewusst sind und bis zur Verwegenheit auf die Güte des Vatersvertrauen."Je armseliger sie sich erlebt, desto grösser ist ihr Vertrauen auf Gottes erbarmende Liebe: "Hätte ichauch alle nur begehbaren Sünden auf dem Gewissen (!), ich ginge hin, mich in die Arme Jesu zuwerfen, denn ich weiss, wie sehr er das verlorene Kind liebt, das zu ihm zurückkehrt."Wie stark Therese es verstanden hat, einfach als Kind vor Gott als Vater zu leben und so auch zu<strong>glauben</strong>, verdeutlich eine kleine Erzählung von ihr, dass sie einmal sagt, sie hätte das Vaterunserbeten wollen. Sie sei aber nicht weit gekommen, sie sei einfach beim Wort „Vater“ stehengeblieben.Das ist typisch Therese, dass sie das eine wichtige für sich fasst und alles andere getrost weglassenkann: nämlich als Kind Gottes Gott gänzlich als Vater zu lieben.