Festschrift "50 Jahre Bundeszahnärztekammer 1953 - 2003" - Die ...
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Grußsw<br />
ort<br />
| 62<br />
<strong>Die</strong> Freiberuflichkeit des Zahnarztes im Spannungsfeld sozialstaatlicher Bindungen<br />
Leistungs- und Vertragsrecht „europafest” zu<br />
machen.<br />
Einschränkung fachlicher, organisatorischer<br />
und wirtschaftlicher Unabhängigkeit<br />
Sowohl die berufliche Entscheidungsfreiheit<br />
als auch die wirtschaftliche Komponente vertrags(zahn-)ärztlicher<br />
Berufstätigkeit sind zunehmend<br />
in den Bannkreis makrosozialer Steuerungsmechanismen<br />
und gesamtwirtschaftlich<br />
orientierter Daten geraten und damit an Kriterien<br />
gekoppelt, die außerhalb des individuellen<br />
Leistungsbezuges liegen. <strong>Die</strong> Einschränkung der<br />
Therapiefreiheit durch ein engmaschiges Regelwerk<br />
von Richtlinien und Budgetvorgaben, die<br />
Kontrolldichte der Wirtschaftlichkeits- und<br />
Qualitätssicherungsprüfungen, die Restriktionen<br />
durch Budgetierung und Degressionsregelungen<br />
sowie durch gesetzgeberische Interventionen in<br />
das Vertrags- und Vergütungssystem bezeichnen<br />
Tendenzen der Unterordnung medizinisch-therapeutischer<br />
Erfordernisse und betriebswirtschaftlicher<br />
Sachzwänge unter das Kalkül Kosten-Nutzen-analytischer<br />
Betrachtungsweise. 34)<br />
Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber<br />
im Hinblick auf die Gemeinwohlbedeutung<br />
der Gesetzlichen Krankenversicherung<br />
einen weiten Gestaltungsspielraum sozialpolitischer<br />
Normsetzung eingeräumt 35) und sowohl<br />
gesetzgeberische Eingriffe in das Vertrags- und<br />
Vergütungssystem als auch Bedarfsplanungsregelungen<br />
und Altersgrenzen für verfassungslegitim<br />
erklärt. 36) <strong>Die</strong>se Rechtsprechung vermag im<br />
Hinblick darauf nicht zu befriedigen, dass sie<br />
die Grundrechtsbelange der Heilberufe als<br />
Leistungsträger in den Hintergrund treten lässt.<br />
<strong>Die</strong> Anerkennung der Finanzierungsfähigkeit der<br />
sozialen Sicherungssysteme als überragend<br />
wichtiges Gemeinschaftsgut rechtfertigt nicht<br />
eine einseitige Lasten- und Risikoüberwälzung<br />
auf freiberufliche Ärzte und Zahnärzte, 37) sondern<br />
erfordert eine sorgfältige Harmonisierung<br />
der involvierten Rechtsgüter und Grundrechtsbelange<br />
im Sinne „praktischer Konkordanz“. 38)<br />
Schon die Zulassung zum Status des Vertrags-<br />
zahnarztes und die Modalitäten seiner Ausübung<br />
unterliegen einer Fülle von Restriktionen<br />
und Reglementierungen. Am schwersten wiegen<br />
dabei die geltende Bedarfsplanung (§§ 101, 103<br />
SGB V) sowie die seit 1999 bestehende Altersbegrenzung<br />
für den Zugang zur vertragsärztlichen<br />
Tätigkeit und für das Erlöschen der Zulassung<br />
(§ 95 SGB V). Nach den gesetzlichen<br />
Bestimmungen können approbierte (Zahn-)<br />
Ärzte, die das 55. Lebensjahr vollendet haben,<br />
grundsätzlich nicht mehr zur vertrags(zahn-)ärztlichen<br />
Versorgung zugelassen werden (§ 98<br />
Abs. 2 Nr. 12 SGB V). Mit Vollendung des<br />
68. Lebensjahres erlischt die Zulassung (§ 95<br />
Abs. 7 SGB V). <strong>Die</strong>se subjektiven Zulassungsbeschränkungen<br />
sah das Bundesverfassungsgericht<br />
als gerechtfertigt an, da sie ein geeignetes<br />
Mittel seien, um die Kosten des Gesundheitswesens<br />
zu begrenzen. Denn eine steigende Anzahl<br />
von Ärzten führe zu einem Anstieg der Ausgaben<br />
der Gesetzlichen Krankenversicherung.<br />
Abgesehen davon, dass dieser Befund angebotsinduzierter<br />
Nachfrage im zahnärztlichen Bereich<br />
nicht in einem dem ärztlichen Versorgungssektor<br />
vergleichbaren Maße besteht, erscheint es<br />
sehr zweifelhaft, ob ein partielles „Berufsverbot“<br />
eine dem Übermaßverbot entsprechende Beschränkung<br />
ist, da sie in ihren Wirkungen einem<br />
Eingriff in die freie Berufswahl zumindest nahe<br />
kommt. An Regelungen der Berufsausübung mit<br />
nachhaltigen Auswirkungen auf die Berufswahl<br />
legt das Bundesverfassungsgericht ansonsten<br />
einen strengen verfassungsrechtlichen Maßstab<br />
an und hält sie nur für gerechtfertigt, „wenn sie<br />
durch besonders wichtige Interessen der Allgemeinheit<br />
gefordert werden, die nicht anders<br />
geschützt werden können“. Insofern sind auch<br />
Regelungen problematisch, die den Vertrags<br />
(zahn-)arzt hindern, seine Praxis oder den Anteil<br />
an einer Gemeinschaftspraxis frei zu veräußern<br />
oder zu vererben (§ 103 Abs. 4 SGB V). <strong>Die</strong><br />
Rechte an Praxis und Praxisanteil genießen<br />
Eigentumsschutz, weil sie auf nicht unerheblichen<br />
Eigenleistungen des Zahnarztes beruhen<br />
39) und der Sicherung seiner Existenz dienen,<br />
sodass solche Regelungen einer staatlichen<br />
34) <strong>Die</strong> schon zu Beginn der 80er <strong>Jahre</strong> von Herder-Dorneich, Gesundheitspolitik zwischen Staat und Selbstverwaltung, 1982, S. 176 ff., beklagten ordnungspolitischen<br />
Steuerungs- und rechtsstaatlichen Strukturdefizite durch eine die Innensteuerung über Selbstbeteiligungen und Leistungsbegrenzungen vernachlässigende einseitige<br />
Globalsteuerung mittels Budgetierung haben sich in den letzten <strong>Jahre</strong>n im Hinblick auf sinkende Beitragseinnahmen, demographische Entwicklung und medizinischer<br />
Fortschritt potenziert und drohen die Krankenversicherung zu einem Kontingentierungs- und Zuteilungssystem zu denaturieren.<br />
35) BVerfGE 103, 172, 185; 103, 392, 404; s. dazu Jaeger, NZS 2003, 225 ff.;<br />
36) S. die Rechtsprechungsnachweise bei Tettinger, Medizinrecht, 290 f.; Steiner, Medizinrecht 2003, 1 ff., 6.<br />
37) Dabei kann als verfassungsrechtlicher Maßstab nicht die Grenze der Existenzbedrohung durch eine gesetzliche Maßnahme dienen, wie Steiner, aaO, S. 6, andeutet<br />
oder die gesetzgeberische Einschätzungsprärogative bei den Auswirkungen von Sparmaßnahmen (BVerfGE 96, 330, 340) als Blankovollmacht die einseitige<br />
Inanspruchnahme von Freiberuflern für Sparzwänge der GKV legitimieren.<br />
38) Zur Aufgabe „praktischer Konkordanz“ als „verhältnismäßiger“ Zuordnung von Grundrechten und grundrechtsbegrenzenden Rechtsgütern s. Hesse, Grundzüge<br />
des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rdnr. 72, 317 ff. Gerade weil die Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung „ein schillernder<br />
Gemeinwohlbelang“ ist, wie Jaeger, NZS 2003, 223, bemerkt, kann der „judicial self-restrain“ des BVerfG nicht so weit gehen, dem Gesetzgeber einen Freibrief für<br />
das Austarieren widerstreitender Interessen und Grundrechtsbelange jenseits der Verhältnismäßigkeitskriterien auszustellen.<br />
39) Zu diesen Voraussetzungen des Eigentumsschutzes nach Art. 14 GG s. BVerfGE <strong>50</strong>, 290, 339 f.