Festschrift "50 Jahre Bundeszahnärztekammer 1953 - 2003" - Die ...
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ung freien Gestaltens tritt auf der einen Seite<br />
immer mehr die nach innen gerichtete Vollzugsfunktion<br />
einer ausufernden Sozialgesetzgebung,<br />
die den Selbstverwaltungsorganen Disziplinierungsfunktionen<br />
gegenüber ihren Mitgliedern<br />
zuweist und diesen in Gestalt von Prüfungs- und<br />
Regressverpflichtungen, ausgebauter Disziplinargewalt<br />
und Bedarfsplanung vorrangiges Gewicht<br />
verleiht. Auf der anderen Seite werden die<br />
Handlungsräume der (zahn-)ärztlichen Selbstverwaltung<br />
zur Erfüllung ihres Interessenwahrungsauftrages<br />
in zunehmendem Maße restriktiv<br />
ausgestaltet. 47) Der genossenschaftliche Gestaltungsrahmen<br />
der Selbstverwaltung wird eingeengt<br />
durch selbstverwaltungsferne Gremien, die<br />
einem strikten Aufsichts- und Beanstandungsrecht<br />
bzw. Genehmigungsvorbehalten der<br />
Ministerialverwaltung unterliegen oder in einer<br />
staatsnahen parakorporativen Grauzone neben<br />
der Selbstverwaltung operieren und dieser<br />
quasi-normative Vorgaben für Therapie- und<br />
Fortbildungsstandards oder Qualitätssicherungsmaßnahmen<br />
machen. Der (Zahn-)Arzt sieht<br />
daher in seiner Selbstverwaltung häufig nicht<br />
mehr die korporative Ausformung seiner freiberuflichen<br />
Interessenwahrung, sondern eine<br />
administrative Kontrollinstanz in der Gestalt mittelbarer<br />
Staatsverwaltung zur Realisierung von<br />
Systembedingungen. <strong>Die</strong>ser Prozess der Verund<br />
Entfremdung der Selbstverwaltung lähmt<br />
die freiberufliche Innovationskraft des (zahn-)<br />
ärztlichen Berufsstandes und erschwert seine<br />
freiberufliche Verantwortungsvermittlung gegenüber<br />
dem Patienten. <strong>Die</strong> im Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz<br />
vorgesehene Splittung<br />
des Sicherstellungsauftrages 48) in eine den Kassen-<br />
(zahn-)ärztlichen Vereinigungen vorbehaltene<br />
hausärztliche Grundversorgung und eine fachärztliche<br />
Versorgung in Verantwortung der Krankenkassen<br />
unter Einbeziehung von stationären<br />
und poliklinischen Versorgungsformen, leitet<br />
den Erosionsprozess kassenärztlich-genossenschaftlicher<br />
Selbstverwaltungsstrukturen ein,<br />
wobei dieser Einstieg in Einkaufsmodelle 49) der<br />
Krankenkassen flankiert wird durch die mit dem<br />
Schlagwort der „Professionalisierung“verbrämte<br />
hauptamtliche Umgestaltung der Kassen (zahn-)<br />
ärztlichen Selbstverwaltung und deren weitere<br />
Kompetenzbeschränkung.<br />
<strong>Die</strong> Freiberuflichkeit des Zahnarztes im Spannungsfeld sozialstaatlicher Bindungen<br />
Zahnärztliche Freiberuflichkeit und<br />
Europäisierung des Gesundheitswesens<br />
Neue Herausforderungen für die zahnärztliche<br />
Freiberuflichkeit und eine freiberufliche<br />
zahnärztliche Selbstverwaltung werden durch<br />
die Europäisierung des ärztlichen und zahnärztlichen<br />
Berufsrechts entstehen. <strong>Die</strong> Niederlassungsfreiheit<br />
und die <strong>Die</strong>nstleistungsfreiheit sind<br />
zentrale Grundfreiheiten des Europäischen Vertrages<br />
und gewährleisten die grenzüberschreitende<br />
Ausübung des Zahnarztberufes in einem<br />
anderen EU-Staat einschließlich der Errichtung<br />
von Zweigpraxen. <strong>Die</strong> <strong>Die</strong>nstleistungsfreiheit gewährleistet<br />
eine grenzüberschreitende freiberufliche<br />
Tätigkeit und gilt sowohl als aktive <strong>Die</strong>nstleistungsfreiheit<br />
für die Leistungserbringung der<br />
Heilbehandlung als auch für den freien <strong>Die</strong>nstleistungsverkehr<br />
der Leistungsnachfrage durch<br />
den Patienten. 1978 wurde für den zahnärztlichen<br />
Berufsstand ebenso wie für manche anderen<br />
Freien Berufe, wie Ärzte, Apotheker,<br />
Rechtsanwälte oder Architekten, eine berufsspezifische<br />
Richtlinie der EU erlassen, die sowohl<br />
den Ausbildungsumfang als auch die Weiterbildung<br />
der Zahnärzte in der EU harmonisierte. <strong>50</strong>)<br />
Durch diese Richtlinie ist gewährleistet, dass<br />
sich Zahnärzte, die die entsprechenden Approbationsvoraussetzungen<br />
erfüllen, europaweit<br />
niederlassen können, ohne dass zusätzliche nationale<br />
Anforderungen gestellt werden können.<br />
<strong>Die</strong> für deutsche Vertragszahnärzte erforderliche<br />
zweijährige Vorbereitungszeit konnte daher<br />
nicht auf Zahnärzte aus anderen EU-Staaten erstreckt<br />
werden, die sich in Deutschland niederlassen<br />
wollen. Auch Diplome eines Drittlandes,<br />
die von einem anderen Mitgliedstaat der EU anerkannt<br />
sind, können bei entsprechender Berufserfahrung<br />
einen Niederlassungsanspruch eines<br />
Zahnarztes begründen, der Staatsangehöriger<br />
eines EU-Mitgliedsstaates ist. <strong>Die</strong> Tatsache, dass<br />
in zunehmendem Ausmaß die Bürger Europas<br />
von der Grundfreiheit der Freizügigkeit in der<br />
Union ohne Binnengrenzen Gebrauch machen<br />
und auch Zahnärzte die Freiheit nutzen, sich<br />
ohne jede Behinderung in anderen Mitgliedstaaten<br />
niederzulassen und <strong>Die</strong>nstleistungen zu<br />
erbringen, gerät immer wieder in Konflikt mit<br />
nationalem Recht, das noch nicht europakom-<br />
47) S. dazu bereits meine Bestandsaufnahmen, in: <strong>Die</strong> Rentenversicherung 1980, 136 ff. und VSSR 1993, 420. Zum aktuellen Funktionsverlust der kassenärztlichen<br />
Selbstverwaltung, s. Kluth, Medizinrecht 2003, 123 ff.<br />
48) Zur Zukunft des Sicherstellungsauftrages durch die Kassenzahnärztlichen Vereinigungen unter Berücksichtigung neuer Versorgungsformen s. Muschallik,<br />
Medizinrecht 2003, 139 ff.<br />
49) Zur ordnungspolitischen Dysfunktionalität und wettbewerbsrechtlichen Problemen von Einkaufsmodellen der Krankenkassen, bei denen der Nachfragemacht<br />
öffentlich-rechtlicher Oligopole einzelne oder Gruppen von „Leistungsanbietern“ gegenüberstünden, s. B. Tiemann, 1994: Das Einkaufsmodell. Oder: “Alle Macht<br />
den Kassen“?, in: Gesellschaftspolitische Kommentare 35, Nr. 8, S. 282 ff.; Weber, SozFortschritt 2001, 254 ff.<br />
<strong>50</strong>) Zum Einfluss der europäischen Entwicklung auf das Berufsbild des Zahnarztes s. Müller-Boschung, ÖZZ 2001, 20 ff.<br />
ort<br />
65 |<br />
Grußsw