Was heißt „interkulturelle Literatur“? - bei DuEPublico - Universität ...
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lich wahrnehmbarer Oberflächenphänomene. Die männliche Figur der Europa „ist eine Meiste-<br />
rin der Kritik [...]. Wenn sie nicht kritisiert wird, verschwindet sie“. Die Kritik ist in diesem Sinne<br />
eine Strategie der Selbstaffirmation. Europa schützt sich durch sie vor der gefürchteten Nicht-<br />
Existenz. „Sie kritisiert sogar eine andere Kultur, wenn sie zu sehr von ihr beeinflusst wird. Ihre<br />
Kritik lautet in diesem Fall: Warum bleibst du nicht du selbst? Warum ahmst du mich nach? Ich<br />
bin doch schlecht“. Die Kritik, so die Erzählerin weiter, sei die Grundform des Denkens dieser<br />
Figur Europas. Doch „Kritik ist für mich noch nie eine kreative Form der Äußerung über mich<br />
selbst und über das Fremde gewesen“ (48). Der Identitätsmechanismus, der hier entworfen wird,<br />
ist demnach ein rein negativer. Europa, so die These, entdeckt überall seine Spiegelbilder und<br />
Plagiatoren 159 . Doch diese Spiegelbilder sind nicht mehr, wie noch zur Hochzeit des Kolonialis-<br />
mus positiv besetzt; Europa ist selbst zu ihrer stärksten Kritikerin geworden.<br />
„Die weibliche Figur der Europa ist diejenige, die in einer mythischen Zeit verlorengegangen sein<br />
soll“ (48). Europa, so die daran anschließende These wurde „bereits im Ursprung als eine Ver-<br />
lust-Figur erfunden“; ihre Realität ist in eine ferne unauffindbare Vergangenheit entrückt, ihr<br />
Wiederfinden ist Gegenstand unendlicher Debatten. Auch diese Figur ist demnach phantasma-<br />
tisch. Während die „männliche Figur der Europa“ überall ihre Doppelgänger gesehen hat, ist die<br />
weibliche Figur allerdings reines Phantasma, verschwunden und nicht wieder aufzufinden. Tawa-<br />
das Essay beschreibt so ein eklatantes Missverhältnis zwischen der ständig behaupteten Evidenz<br />
von Identität und zwischen ihrem demgegenüber geradezu lächerlich fiktiven Auftreten als Ge-<br />
genstand des Diskurses. Europäische Identität ist, wie alle Identität, weder eine Summe von O-<br />
berflächenphänomenen, von Bildern – diese Vorstellung vergleicht die Erzählerin in Bezug auf<br />
Europa mit einer Umkehrung des Orientalismus – sie ist aber auch kein Tiefenphänomen, alle<br />
mythische Aufladung stellt sich letztendlich als Fiktion heraus.<br />
Der Essay Tawadas lässt sich demnach bruchlos an die allgemeinen Vorgaben Michel Foucaults<br />
anschließen, die er für seinen Entwurf einer Archäologie des Wissens beschreibt:<br />
« L’analyse énonciative est donc une analyse historique, mais qui se tient hors de tout interprétation<br />
: aux choses dites, elle ne demande pas ce qu’elles cachent, ce qui s’était dit en<br />
elles malgré elles le non-dit qu’elles recouvrent, le foisonnement des pensées, d’images ou<br />
de fantasmes qui les habitent [...]. » (FOUCAULT 1969a, 143)<br />
Foucaults Theorie <strong>bei</strong>nhaltet da<strong>bei</strong> keine explizite Kritik an der mythischen Aufladung von Spra-<br />
che, 160 wie Barthes sie vorgetragen hatte. Sie möchte eher untersuchen, wie die Bedingungen der<br />
159 Zum Thema der europäischen Repräsentationspraxis und zum damit zusammenhängenden Glauben an die Universalität<br />
von Kommunikationsprozessen, vgl. meine Darstellung einiger Thesen Stephen Greenblatts zum Entdeckerdiskurs<br />
in dieser Ar<strong>bei</strong>t, Kap. II.4.<br />
160 Zu einer Kritik am Mythenrealismus (VII) vgl. VON GRAEVENITZ 1987. Gerhart von Graevenitz schließt da<strong>bei</strong> zwar<br />
an Foucault an, versucht ihn aber insofern weiterzudenken, als er ihm eine Blindheit der eigenen Methode gegenüber<br />
nachweisen möchte: „ [...] Foucaults ‚Diskurs’-Begriff und die ihm komplementäre Methode [leugnen] ihren rhetorischen<br />
Fundus [...] und [wollen] sich gerade jenseits der auf ‚Tradition’ und ‚Gewöhnung’ zielenden rhetorischen<br />
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