Was heißt „interkulturelle Literatur“? - bei DuEPublico - Universität ...
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den Zuschnitt des Begriffs nämlich kaum entscheidend, in welcher Weise er auf eine Abgeleitet-<br />
heit verweist. Die Frage ist, warum eine Alternative stets nur als abgeleitet von konzeptualisiert wer-<br />
den kann. Bhabhas raunender Appell ist nicht ausreichend. Verschiedenheit muss zeitlich unab-<br />
hängig gedacht werden, wenn sie soziale Phänomene adäquat erfassen soll. Denn ein soziales<br />
Gefüge und soziale Mechanismen funktionieren ja nicht nur über den herrschenden Diskurs und<br />
über die gängig praktizierten Muster, sondern diese gewinnen als vorherrschende erst Realität<br />
dadurch, dass sie von anderen abgesetzt sind, dass sie wenigstens strukturell eine individuelle<br />
Wahl darstellen.<br />
Ich sage: strukturell, denn ich möchte an dieser Stelle nicht in die Debatte um die Möglichkeit<br />
oder Unmöglichkeit einer individuellen Wahl eintreten. Die Theorien Foucaults und Bourdieus<br />
haben überzeugend dargelegt, dass vorgeblich freie Entscheidungen stark von historischen Kon-<br />
tinuitäten, epistemischen Formationen und Distinktionsmechanismen geprägt sind. Mir geht es<br />
an dieser Stelle nicht darum, mich mit meiner Option für die strukturelle individuelle Wahl von<br />
diesen Überlegungen abzuwenden, ganz im Gegenteil. Gerade vor ihrem Hintergrund halte ich es<br />
für unausweichlich, auf die implizite Wertigkeit zeitlicher Priorität hinzuweisen, die Bhabhas<br />
Konzept von Hybridität nicht angemessen berücksichtigt. Zeitliche Abfolge ist von einem nobili-<br />
tierenden Ursprungsgedanken praktisch nämlich nicht so einfach zu trennen, wie Bhabha dies<br />
nahe legt. Hybridität ist viel eher als ein Zwischen- oder ein dritter Raum die conditio sine qua non<br />
von Kultur.<br />
Deutlicher wird mein Einwand vielleicht, wenn wir gemeinsam einen anderen bekannten Hybri-<br />
ditätsbegriff genauer betrachten, nämlich den Michail Bachtins. In seinem Aufsatz Das Wort im<br />
Roman wendet er sich gegen die Auffassung, die Analyse eines Romans könne sich auf inhaltliche<br />
oder thematische Elemente beschränken, bzw. die Sprache des Romans sei außerkünstlerisch, d.h.<br />
ungleich der der Lyrik „nicht in spezifischer Weise bear<strong>bei</strong>tet“ (BACHTIN 1934/35, 155) und also<br />
nicht wirklich poetisch. Bachtin setzt dieser Vorstellung sein Polyphoniekonzept entgegen, indem<br />
er das Wirken der Sprache „im Milieu der Redevielfalt“ ansiedelt und Sprache als grundlegend „in<br />
sozioideologische Sprachen“ gespalten konzeptualisiert:<br />
90<br />
„Und diese faktische Aufspaltung und Vielfalt der Rede ist nicht nur die Statik, sondern<br />
auch die Dynamik des sprachlichen Lebens: die Aufspaltung und die Redevielfalt verbreitern<br />
und vertiefen sich, solange die Sprache lebendig ist und sich entfaltet; neben den zentripetalen<br />
Kräften verläuft die ununterbrochene Ar<strong>bei</strong>t der zentrifugalen Kräfte der Sprache,<br />
neben der verbal-ideologischen Zentralisierung und Vereinheitlichung finden ununterbrochen<br />
Prozesse der Dezentralisierung und Differenzierung statt.“ (165)