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Was heißt „interkulturelle Literatur“? - bei DuEPublico - Universität ...

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durch die extrem unterschiedliche Länge der <strong>bei</strong>den Ausdrucksweisen auch einen komischen<br />

Effekt (und zwar nicht im Sinne von strange, sondern im Sinne von funny). Dieser Effekt ist nun<br />

aber völlig unabhängig von einer etwaigen ungenauen Übersetzung, doch er gehört ebenso zum<br />

Text wie diese semantische Ungenauigkeit, die nur ein bilingualer Leser feststellen kann. Warum<br />

soll nun aber der eine Effekt einen Text, der über mindestens so weite Strecken auf deutsch ge-<br />

schrieben ist wie eben Der Zauberberg, in dem jemand, der Französisch nicht beherrscht, von dem<br />

Gespräch zwischen Chauchat und Castorp nicht etwa nur nicht jede Nuance, sondern einfach<br />

kein einziges Wort versteht, warum soll also der semantische Mehrwert für den deutsch-türkischen<br />

Zweisprachler nun die Schaffung einer völlig anderen Gattung rechtfertigen? Wer würde es sich<br />

anmaßen, wegen einer viel umfangreicheren Abweichung vom Standarddeutschen, den Zauberberg<br />

plötzlich nicht mehr vollständig zur deutschen Literatur zu zählen, ihm eine Sonderstellung zwi-<br />

schen der deutschen und der französischen Nationalphilologie einzuräumen? So absurd der letzte<br />

Gedanke <strong>bei</strong> kanonisierten Autoren wie Thomas Mann auch erscheinen mag, er ist für Autorin-<br />

nen wie Emine Özdamar schon längst gedacht und hat seine Auswirkungen auf die Analyse ihrer<br />

Texte.<br />

Die Gründe für meine Textauswahl liegen also weder in deren repräsentativer Funktion für eine<br />

bestimmte Gattung oder einen bestimmten kulturellen Hintergrund noch für eine bestimmte Sprache.<br />

Sie bestehen eher darin zu zeigen, dass es gar keinen zwingenden Grund dafür gibt, nach einer<br />

solchen Repräsentation zu suchen.<br />

Abschluss. Der Vorwurf des Relativismus<br />

Die Einleitung ist sicher auch die geeignetste Stelle, um sich gegen den in letzter Zeit im öffentli-<br />

chen Diskurs wieder sehr gern gemachten Vorwurf des Relativismus zu verwahren. Es ist zwei-<br />

fellos undenkbar, von Wertungen grundsätzlich Abstand zu nehmen und es ist auch nicht wün-<br />

schenswert, den historischen Kontext, die Einbettung des Kunstwerks in Zusammenhänge, die<br />

nicht unmittelbar ästhetischer Natur sind, zu vergessen.<br />

Doch Wertungen müssen eine Grundlage haben, man muss sich für Kriterien entscheiden, über<br />

deren unmögliche Allgemeingültigkeit man sich da<strong>bei</strong> nicht im Unklaren sein darf. Die Verant-<br />

wortung, dieses oder ein anderes Kriterium zu wählen, das man als Orientierung für die Wertun-<br />

gen nimmt, obliegt da<strong>bei</strong> stets dem Einzelnen. Ich sehe nicht, was daran beliebig oder relativis-<br />

tisch sein soll, denn es bleibt verpflichtend, die eigenen Kriterien nicht einfach zu setzen, sondern<br />

sie zu plausibilisieren und es bleibt eine Aufgabe der Redlichkeit, andere Formen der Gewichtung<br />

zu akzeptieren. Es wird notwendig und ein zentraler Punkt dieser Diskussion sein, den Gedanken<br />

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