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Was heißt „interkulturelle Literatur“? - bei DuEPublico - Universität ...

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Erinnerung, die aber gleichzeitig eine Bewegung weg von den Menschen und jeder Form von<br />

Familie ist – der wahren des Geistes (Saadiya) und der genetischen (Mutter).<br />

Es scheint mir im Angesicht dieser Fülle von Bedeutung, die der Text – und als seine Verkörpe-<br />

rung der Inspecteur Ali – trägt, gar nicht wünschenswert, irgendeine Form von Einengung vor-<br />

zunehmen. L’inspecteur Ali lebt von dem Wunsch des Autors, Verantwortung zu übernehmen,<br />

dieser Verantwortung aber nur sehr schlecht gerecht werden zu können, da jedem dahingehenden<br />

Versuch ein grundlegendes Hindernis im Weg steht. Chraïbi untersucht verschiedene Auswege<br />

aus der Erkenntnis, die sich seinem Protagonisten <strong>bei</strong> jedem neuen Versuch, ernsthafte, hohe<br />

Literatur zu schreiben, entgegenstellt. Einige davon führen aus der Sprache heraus, man kann sie<br />

mit den Stichworten Leben und Glauben belegen. Andere führen in die Sprache hinein, sind aber<br />

voll von Kränkungen, die immer wieder vor allem in Gestalt des Inspecteur Ali Form annehmen,<br />

aber auch in den Passagen über das mit Literatur verdiente Geld zu suchen sind. So noch einmal<br />

ganz am Ende, als der Verleger mit dem neuen, ambitionierten Krimi eine neue Zielgruppe zu<br />

erschließen hofft: „Tous les fachos, tous les ignares vont se précipiter sur ce bouquin. C’est un<br />

nouveau créneau que je vais exploiter à fond, crois-moi.“ 295 (214) Ist diese Ankündigung eher ein<br />

Versprechen oder eine Drohung? Ist es ein Zeichen der Subversion, den Rechtsextremen Geld<br />

aus der Tasche zu ziehen, mit dem sie den Lebensstandard eines maghrebinischen Schriftstellers<br />

sichern? Oder sind die Worte des Verlegers Zeichen einer grundlegenden Indifferenz gegenüber<br />

der moralischen Wirkung eines Textes, einer totalen Fixierung auf seine Marktchancen, hinter die<br />

alles andere zurücktritt?<br />

Es bleibt unklar, ob Brahim am Ende den Eindruck hat, er sei mit dem neuen Krimi in die Sphä-<br />

ren hoher Literatur vorgestoßen, oder ob das Auftauchen des Inspecteur Ali seine Pläne zerstört<br />

hat. Jedenfalls ist das entstandene Buch nicht Le Second Passeé simple, denn von dem wird am Ende<br />

gesagt, dass die Leute auf der Straße es wohl nicht lesen werden „si toutefois je le terminais un<br />

jour.“ 296 (216). Der Protagonist klammert sich am Ende an die Potentiale des mündlichen Aus-<br />

drucks (216), doch diese Wende ist schwer einzuordnen, da ja auch er im Laufe der Handlung<br />

stark in Misskredit geraten ist. Ich möchte diese Sehnsucht lesen als den unverbrüchlichen Glau-<br />

ben an die Möglichkeiten der Sprache, selbst wenn man sich bewusst geworden ist, wie wenig<br />

Kontrolle man schlussendlich über sie erlangen kann. Chraïbis Sprachauffassung scheint mir da-<br />

mit ähnlich hoffnungsvoll wie die Butlers zu sein.<br />

<strong>Was</strong> die biographische Lesart betrifft, dürfte klar geworden sein, dass der Text ein zu offensicht-<br />

liches Verwirrspiel um die Person Brahims inszeniert, als dass man von einer einfachen Gleich-<br />

295 „Alle Faschos, all die Ungebildeten werden sich auf dieses Buch stürzen. Das ist eine Marktlücke, die ich total<br />

ausbeuten werde, glaub mir.“<br />

296 „wenn ich es eines Tages dann doch noch beenden sollte.“<br />

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