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Was heißt „interkulturelle Literatur“? - bei DuEPublico - Universität ...

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ihrer Cousine und deren Familie. Bevor Hans ankommt, gefällt sie sich ja in dem Gedanken De-<br />

nise und David mit der Tatsache zu schockieren, dass sie nun mit einem Deutschen zusammen<br />

ist. Sie grenzt sich auch weiterhin ausdrücklich von dem durch ihre Verwandten repräsentierten<br />

Familienmodell ab – „j’attends seulement Hans […] [p]as pour faire à mon tour une famille […]<br />

Je les ai quittés vite, les cousins. Je veux vraiment les oublier“ 357 (148). Auch in dieser Situation<br />

taucht demnach das Motiv des Vergessens auf, nur um <strong>bei</strong>m Streit in ein prinzipielles Erinnern<br />

umgewandelt zu werden. Bei ihrer wechselseitigen Provokation scheint sich Eve ganz und gar<br />

nicht mehr von ihren gläubigen Verwandten abheben zu wollen, sondern sie übernimmt deren<br />

mutmaßliche Schockiertheit: Ein Deutscher hat sich nicht zu erlauben über die Beschneidung<br />

eines jüdischen Kindes zu scherzen.<br />

An dieser Konstellation wird gerade im Zusammenhang mit der oben begonnenen Interpretation<br />

dieser Szene deutlich, dass es Djebars Text hier kaum um eine Entscheidung dieser Frage gehen<br />

kann. Er weist im Gegenteil auf die Widersprüchlichkeit hin, die sich in einem Vergessen und<br />

Erinnern praktisch auf Knopfdruck äußert. Gerade ging es noch um die Familiensituation, in<br />

Bezug auf die die Nationalität Hans’ als Spitze gegen die braven und recht konservativen Denise<br />

und David gewendet werden konnte. An dem Punkt, an dem es um den eigenen Konservatismus<br />

Eves geht – und nichts anderes ist vom Mechanismus her ihr Festhalten an in ihrer Jugend ge-<br />

fassten Prinzipien – wird die Nationalität wieder zum ernsten Hindernis. Dazu kommt erschwe-<br />

rend, dass die ganze Szene so ödipal aufgeladen ist. Den Lesenden, die den inneren Monolog<br />

Hans’ kennen, will es scheinen, als ziele seine Provokation eher auf eine gefühlte Bedrohung sei-<br />

ner Beziehung zu Eve durch das Kind ab, als dass sie eine antisemitische Note enthielte. Über-<br />

dies wird die Willkür der Zuweisung kultureller Attribute deutlich, denn das Kind bleibt zwangs-<br />

läufig stumm, ist da<strong>bei</strong> allerdings eine explosive hybride Existenz: Kind einer sephardischen Jüdin<br />

und eines Deutschen. Die Mutter eignet sich diesen Umstand in der vorliegenden Szene gezielt<br />

an und schürt die ödipale Konkurrenzsituation zwischen Sohn und Vater 358 .<br />

Vergessen und Erinnern werden in dieser Szene recht undurchschaubar eingesetzt: Sowohl in<br />

Bezug auf die deutsch-jüdische Geschichte als auch in Bezug auf die ödipale Konstellation kann<br />

nicht eindeutig geklärt werden, ob diese Dinge nun wichtig sind und hochgehalten, also erinnert<br />

werden oder ob sie als irrelevantes starres Gerüst nur noch durch die Konvention gestützt wer-<br />

den, für die vorliegende Situation demnach eher die Funktion einer zu überschreitenden Grenze<br />

haben. Da<strong>bei</strong> geht es übrigens nicht, das muss vielleicht ausdrücklich herausgestrichen werden,<br />

357 „Ich warte nur auf Hans [...] und nicht um meinerseits Familie zu spielen [...]. Ich habe Cousin und Cousine<br />

schnell verlassen. Ich möchte sie wirklich vergessen.“<br />

358 Interessant ist in diesem Zusammenhang ebenfalls, dass das Kind ja auch ein Mädchen sein könnte und dass der<br />

Streit somit gewissermaßen ins Leere liefe. Die ganze Szene wird dadurch auch zu einer Parallelstelle zur Erzählung<br />

Theljas von dem Gespräch mit ihrer Großmutter, in dem das Mädchen völlig handlungsunfähig den Zuweisungen<br />

der Erwachsenen ausgeliefert war.<br />

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