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Was heißt „interkulturelle Literatur“? - bei DuEPublico - Universität ...

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Dunstkreis fortbewegt. Alternative Lesarten der interkulturellen Literatur sind auch zehn Jahre<br />

nach Weigels Zwischenbilanz noch Mangelware.<br />

Werner Nell problematisiert in seiner Betrachtung der Migrantenliteratur erneut stark die politische<br />

Dimension des Begriffs. „Passbesitz schafft weder eine literarische Gattung noch einen Stil, nicht<br />

einmal zur inhaltlichen Eingrenzung kann er vernünftigerweise herangezogen werden“ stellt er<br />

grundsätzlich fest (NELL 1998, 37). Schon der Begriff selbst vernachlässigt demnach die ästheti-<br />

sche Dimension der unter ihn subsumierten Texte, so dass die Dominanz der politischen Lesart<br />

nicht verwundern kann. Eine thematische Eingrenzung des Begriffs ist für Nell allerdings auch<br />

nicht sinnvoll, denn weder schreiben alle Migranten ausschließlich über ihre Migrationserfahrung,<br />

noch kann man behaupten, dass dieses Thema in literarischer Produktion Deutscher ohne Migra-<br />

tionshintergrund nicht vorkäme und also als Merkmal die nötige Trennschärfe besäße (38).<br />

In der Folge nimmt Nell einen Faden wieder auf, den schon Harald Weinrich gesponnen hatte.<br />

Weinrich hatte die interkulturelle Literatur theoretisch mit Viktor Šklovskijs bekannter These, die<br />

poetische Sprache müsse mit Hilfe von Bildern die alltägliche Semantik verfremden und entau-<br />

tomatisieren, in Verbindung gebracht: „Ziel des Bildes ist nicht die Annäherung seiner Bedeutung<br />

an unser Verständnis, sondern die Herstellung einer besonderen Wahrnehmung des Gegenstan-<br />

des, so dass er ‚gesehen’ wird, und nicht ‚wiedererkannt’“ (ŠKLOVSKIJ 1916, 25) 48 . Die gute Idee<br />

Weinrichs und Nells besteht darin, das Element der Fremdheit poetologisch und nicht inhaltlich<br />

zu konzeptualisieren. Nell tut dies seinerseits im Rückgriff auf Cassirer, der Kunst nicht als<br />

„Nachbildung einer vorgegebenen Wirklichkeit“ beschreibt, sondern in Abgrenzung von solchen<br />

rein mimetischen Kunstvorstellungen die folgende Charakteristik gibt: „Sie ist einer der Wege zu<br />

einer objektiven Ansicht der Dinge und des menschlichen Lebens. Sie ist nicht Nachahmung,<br />

sondern Entdeckung von Wirklichkeit“ 49 . Nell fasst diesen Gedanken folgendermaßen zusam-<br />

men: „Fremdheit erscheint hier also nicht als soziale Tatsache oder persönlich-biographische<br />

Erfahrung, die der Aufar<strong>bei</strong>tung bedarf [...], sondern als eine Form jener Interferenzerfahrungen,<br />

die das Gewebe der Kultur selbst ausmachen und die gestalten zu können die grundlegende<br />

Funktion der Kunst darstellt.“ (NELL 1998, 38) Der Begriff der Migrantenliteratur erweise sich<br />

nur in politisch-sozialer Hinsicht, nicht aber „als literaturwissenschaftliche Kategorie oder Text-<br />

sortenbestimmung“ als nützlich (39). Dazu passt, dass Nell die vier Strukturen, die er in der<br />

Migrantenliteratur ausmacht, am Ende nicht auf diese beschränken will, sondern feststellen muss,<br />

dass sie zu den „allgemeinen Strukturen“ gehören, die jede Art schöner Literatur auszeichnen.“<br />

48 Vgl. dazu auch WEINRICH 1983, 918.<br />

49 CASSIRER 1944, 220. Die Einschätzung der Kunst als einer objektiven Ansicht der Dinge weist da<strong>bei</strong> auch eine Parallele<br />

zu Georg Simmels Exkurs über den Fremden auf. Dieser beschreibt den Fremden gerade als objektiv und meint damit<br />

dessen Unabhängigkeit von den Festgelegtheiten der Gruppe, seine Beweglichkeit; vgl. SIMMEL 1908, 766f).<br />

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