Was heißt „interkulturelle Literatur“? - bei DuEPublico - Universität ...
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durch individuelle Entscheidungsprozesse veränderbar und von ihrer Billigung abhängig zu sein.<br />
Beide scheinen außerdem in analoger Weise auf einen Naturbegriff als ihr Gegenteil bezogen<br />
werden zu können – ganz gleich, ob Natur auf materielle Grundlagen wie Hunger, Sterblichkeit<br />
und Atmung reduziert oder ob dieser Begriff mit kulturellen Kategorien wie Geschlecht oder Ethnie<br />
angereichert wird, indem sie wenigstens partiell der Natur zugeschlagen werden. Identität wird<br />
wie Kultur als ein Konstrukt begriffen, das zu den materiellen Grundlagen der Natur – wie weit<br />
oder eng sie auch immer gefasst sein mögen – in einem homologen Oppositionsverhältnis steht.<br />
Aufgrund dieser außerordentlich verwirrenden terminologischen Situation, möchte ich vorschla-<br />
gen, Kultur unter dem zuerst genannten Blickwinkel zu analysieren, d.h. in ihrer Doppelbedeutung<br />
als ästhetisches bzw. anthropologisches Phänomen. Identität erscheint mir da<strong>bei</strong> analytisch von<br />
Kultur nicht trennbar zu sein, die <strong>bei</strong>den Begriffe stützen sich gegenseitig, nehmen sich gegensei-<br />
tig zum Ausgangs- und zum Zielpunkt, je nach dem, in welchen Text man gerade schaut. Hart-<br />
mut Böhme hat diesen untrennbaren Zusammenhang im Hinblick auf die „historische Semantik“<br />
des Kulturbegriffs zu erklären versucht, die zeige, „dass es <strong>bei</strong> jedweder Kultivierung auf die Si-<br />
cherung von räumlicher Ständigkeit und zeitlicher Stetigkeit ankommt.“ (BÖHME 1996, 53) Kul-<br />
tur ist so gesehen durch Identität, d.h. durch gewisse Techniken, Rituale oder Verhaltensweisen<br />
geprägt, die dem offenbar so wichtigen Ziel der Dauerhaftigkeit zuar<strong>bei</strong>ten.<br />
Das folgende Kapitel soll, von dieser engen Verflechtung von Identität und Kultur ausgehend,<br />
deren Verhältnis in der theoretischen Debatte beleuchten, um schließlich im weiteren Verlauf der<br />
Ar<strong>bei</strong>t nachvollziehen zu können, in welcher Weise die Texte der interkulturellen Literatur den<br />
ihnen gattungsmäßig eingeschriebenen Kulturbegriff behandeln, wie er von ihnen verändert, ob<br />
er ironisiert oder gar verworfen wird. Es wird sich zeigen, dass es bereits im theoretischen Dis-<br />
kurs ganz gegensätzliche Aussagen dazu gibt, ob Kultur vor allem stabil oder vor allem dyna-<br />
misch und veränderlich gedacht werden muss. Es wird zu überlegen sein, wie ernst ein dynami-<br />
scher Kulturbegriff zu nehmen ist, wenn er gleichzeitig mit der Unterscheidung von Zentrum<br />
und Peripherie operiert: Ist nicht in solch einer Vorstellung der stabile Kern einfach von einem<br />
changierenden Außenbezirk abgespalten worden? Inwieweit ist Kultur ein überindividueller Beg-<br />
riff? Inwieweit tragen andererseits die Handlungen und Entscheidungen des Einzelnen zu seiner<br />
Veränderung oder Stabilisierung <strong>bei</strong>?<br />
Ich stütze mich in dieser Ar<strong>bei</strong>t für die Beantwortung dieser Fragen auf die diskurstheoretischen<br />
Überlegungen Michel Foucaults, der das äußernde Subjekt nicht mit dem Individuum gleich-<br />
setzt 108 . Ein Subjekt trifft seine Entscheidungen zwar intentional, das <strong>heißt</strong> mit einem bestimmten<br />
Ziel, doch das <strong>heißt</strong> eben nicht automatisch, dass die Entscheidungen individuell sind in dem<br />
Sinn, dass sie dem freien, unbeeinflussten Willen eines individuellen Subjekts (sujet individuel) ent-<br />
108 Vgl. FOUCAULT 1969a, 124.<br />
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