Was heißt „interkulturelle Literatur“? - bei DuEPublico - Universität ...
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ihm besucht sie eine sogenannte Cinematek, die als eine Kreuzung aus Kino und einem Zentrum<br />
für die linke Szene dargestellt wird.<br />
„Einer der Cinematek-Leute erzählte, dass man den Buschmännern in Afrika zwei Filme<br />
gezeigt hätte – einen Film von Chaplin und einen Film über die Konzentrationslager in<br />
Deutschland. Die Buschmänner, die nichts von Hitler wussten, lachten über diesen Film<br />
mehr als über Chaplin, weil sie es komisch fanden, dass weiße Männer so verhungert aussehen<br />
konnten.“ (289)<br />
Diese Anekdote bleibt, wie die meisten Bilder <strong>bei</strong> Özdamar, in ihrem bizarren Schrecken un-<br />
kommentiert stehen. Doch bildet sie unübersehbar einen Nachhall der gerade zu Ende gegange-<br />
nen Reise ins von der Hungersnot betroffene anatolische Hinterland. Die Szene legt nahe, dass<br />
eine Abbildung nicht per se schrecklich ist, sondern dass sie mit einem Wissen um die Umstände<br />
verbunden sein muss. Insofern wird der Eindruck der Fälschung, der <strong>bei</strong>m Leser <strong>bei</strong> der Begeg-<br />
nung mit den Bäuerinnen und dem Mann mit dem Esel noch evoziert wurde, wieder relativiert.<br />
Es scheint plötzlich nicht mehr sicher, dass ein Foto wirklich hungernder Menschen mehr Aus-<br />
druckskraft gehabt hätte als die posierende Ich-Erzählerin im bunten Kleid. Außerdem schwingt<br />
in der Anekdote von den lachenden Buschmännern noch ein weiterer Aspekt mit, der wieder auf<br />
die Mennipea zurückverweist. Denn was ist ihr Lachen anderes als ein Lachen über die Kolonisa-<br />
toren, die ihr Land mit Gewalt an sich gebracht haben? Das Lachen über den KZ-Film wird so<br />
zu einem Lachen, das die Bedrohung bannen soll. Dass es in einer für den „mehr“ wissenden<br />
Leser furchtbaren Umdeutung gerade die Opfer der mörderischen Biopolitik der Nazis trifft, hat<br />
eine fast schon unheimliche Komponente: Die Menschen, an denen die entsetzlichsten Verbre-<br />
chen der Geschichte begangen wurden, werden zur Repräsentation der imperialistischen Macht-<br />
haber. Vor dieser Folie erscheint die Ich-Erzählerin im anatolischen Kleid doppelt lächerlich. Der<br />
Film, den diese in Ankara zum Entwickeln gibt, wird dort übrigens – absichtlich? auf Geheiß der<br />
machthabenden Politiker? – durch den Laboranten zerstört.<br />
Die Ich-Erzählerin unternimmt noch eine weitere Reise und zwar während ihres zweiten<br />
Deutschlandaufenthaltes, sie beherrscht also nun endlich die deutsche Sprache und war ja mit<br />
klaren Vorsätzen zum zweiten Mal dorthin gereist: „Ich wollte Deutsch lernen und mich dann in<br />
Deutschland von meinem Diamanten befreien, um eine gute Schauspielerin zu werden“ (108) –<br />
die Metapher des Diamanten bezeichnet über das ganze Buch hinweg die Jungfräulichkeit. Es ist<br />
beachtenswert, dass auch an dieser Stelle erneut das Theater bzw. die Schauspielerei als Bezugs-<br />
größe aufgerufen werden. Syntaktisch könnte sogar der erweiterte Infinitiv Deutsch lernen auf die<br />
Schauspielerei als Zweck verweisen, d.h. der Finalsatz würde sich auf den gesamten nun einge-<br />
schlagenen Weg beziehen. Wir wissen nun bereits, in welchem Rahmen diese Vorstellung von<br />
guter Schauspielerei im Text angesiedelt ist, nämlich zum einen in der Überschreitung des Büh-<br />
nenraums im Sinne des epischen Theaters, zum anderen in einer komischen, karnevalesken Tra-<br />
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