27.12.2012 Aufrufe

Was heißt „interkulturelle Literatur“? - bei DuEPublico - Universität ...

Was heißt „interkulturelle Literatur“? - bei DuEPublico - Universität ...

Was heißt „interkulturelle Literatur“? - bei DuEPublico - Universität ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Mais, ma chère, j’ai bien acheté… – Non, Jock. Non. Ne dites pas cela à moi, qui suis votre<br />

épouse depuis quarante ans. Je puis vous suivre dans vos illusions jusqu’à une certaine<br />

limite, mais ne me demandez pas de me noyer aveuglément dans vos troubles de mémoire.<br />

Car tout est là dans mon sac : les billets de banque, la carte de crédit, les traveller’s<br />

cheques [...]. Dans ces conditions, avec quoi auriez-vous fait cet achat chimérique ? Et<br />

où ? sur un tapis volant entre Ispahan et Istanbul ? – Je croyais… j’étais persuadé<br />

d’avoir… – Mais oui ! mais oui, conclut Susan. » 274 (119)<br />

In diesem Dialog wird die Erkennbarkeit von Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit thematisiert, wie<br />

ich sie bereits in der Debatte zwischen Searle und Derrida nachgezeichnet habe. Die Aufrichtig-<br />

keit auf Seiten Jocks ist durch seine mehrfachen Beteuerungen markiert. Doch die Szene wird<br />

pathologisiert mit der Zuschreibung von Gedächtnisschwäche. Es ist da<strong>bei</strong> relevant, von wem<br />

diese Zuschreibung vorgenommen wird, nämlich von Susan, die im Dialog mit dem Kulturminis-<br />

ter als Trägerin des kulturellen Gedächtnisses erkennbar wurde – der Kulturminister ist auch<br />

ganz hingerissen von ihr (120). Dieses kulturelle Gedächtnis 275 , diese fleischgewordene Ansamm-<br />

lung von Zitaten (Minister) und diese inkarnierte Verweigerung der Kommunikation (Susan), hat<br />

aber die Evidenz auf ihrer Seite, denn womit hätte Jock den Kauf tätigen sollen, wo die Mittel<br />

dazu doch in Susans Handtasche schlummerten.<br />

Doch das wahre Leben, die Realität, die für den Schriftsteller der Quell der Inspiration sein müs-<br />

sen, sind in dieser Szene bemerkenswerterweise auf Seiten Jocks verortet. Er liefert das événement,<br />

das Brahim plötzlich packt und von dem er sagt: „Avec du recul et un peu de levain, je transfor-<br />

merai tout cela en une enquête de l’inspecteur Ali – et peut-être bien en haute littérature.“ 276 (118)<br />

Die Realität, die den Schriftsteller interessiert und die er beobachtet, ist demnach eine andere als<br />

die der Gegenstände und Fakten. Sie ist verkörpert durch einen alten Mann, der sein Gedächtnis<br />

nicht mehr im Griff hat, der sich auf äußere Umstände nicht mehr einzustellen vermag und des-<br />

halb auch viel zu warm angezogen ist. Diese Konstellation ist literaturfähig – je transfomerai tout cela<br />

[...] en haute littérature – während der gelehrte Dialog zwischen Susan und dem Minister in der<br />

Sprache der hohen Literatur von Brahim links liegen gelassen wird 277 .<br />

274 „’Jock! Listen, Jock! sagte Susan langsam und ganz sanft [...]. Ich nehme an, dass Ihre Worte aufrichtig sind, die<br />

aber nicht ganz mit Ihren Handlungen übereinstimmen.’ ‚Aber, meine Liebe, ich habe doch...’ ‚ Nein, Jock. Nein.<br />

Sagen Sie mir das nicht, ich bin seit 40 Jahren mit Ihnen verheiratet. Ich kann Ihnen <strong>bei</strong> Ihren Illusionen bis zu einer<br />

gewissen Grenze folgen, aber verlangen Sie nicht von mir, mich blind in ihre Gedächtnisverwirrungen zu stürzen.<br />

Denn alles ist hier in meiner Tasche: die Banknoten, die Kreditkarte, die Travellerschecks [...] Womit hätten Sie unter<br />

diesen Umständen diesen angeblichen Kauf tätigen wollen? Und wo? Auf einem fliegenden Teppich zwischen Ispahan<br />

und Istanbul?’ ‚Ich dachte... ich war überzeugt davon...’ ‚Aber ja, aber ja,’ schloss Susan.“<br />

275 Ich verwende den Begriff im Anschluss an das gleichnamige Buch von Jan Assmann (ASSMANN 1997) als Überbergriff<br />

für Stichwörter wie Traditionsbildung, Vergangenheitsbezug, politische Identität bzw. Imagination. Kulturell<br />

<strong>heißt</strong> <strong>bei</strong> Assmann soviel wie artifiziell und institutionalisiert. Bei Chraïbi ist das damit verbundene Konzept (er verwendet<br />

ja den Begriff nicht) allerdings deutlich negativer gefärbt.<br />

276 „Mit Abstand und ein paar Ideen verwandle ich das alles in einen Fall des Inspecteur Ali – und vielleicht sogar in<br />

hohe Literatur.“<br />

277 Unterstrichen wird diese Lesart durch das einführende Zitat des Kulturministers, das er Flauberts Anhang zu<br />

Bouvard et Pécuchet, dem Dictionnaire des idées reçus (FLAUBERT 1881), entnimmt. Schon hier wird Gelehrsamkeit, wie sie<br />

168

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!