Was heißt „interkulturelle Literatur“? - bei DuEPublico - Universität ...
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Noch einmal: Es soll und kann nicht bestritten werden, dass in den zu besprechenden Romanen<br />
Fremdheit, Kolonialismus und ähnliche Themen eine Rolle spielen. Doch kann man diese Begrif-<br />
fe nicht so wenden, dass sie viel umfassender klingen? Man würde doch auch nicht auf die Idee<br />
kommen, dass Thomas Mann seine Buddenbrooks ausschließlich für hanseatische Großbürger<br />
schreibt, nur weil sie diejenigen sind, die darin vor allem vorkommen. Man geht wie selbstver-<br />
ständlich davon aus, dass die Wirrungen der armen Toni etwas über das Thema zwischenmenschliche<br />
Beziehungen im Allgemeinen aussagen und nicht nur über das Thema Heiratspraktiken der Bourgeoisie.<br />
Dies ist ein Zugeständnis, das, eigentlich selbstverständlich, jedem Text gemacht werden muss,<br />
also auch denen, die man durch die Bezeichnung interkulturelle Literatur auf die Bestimmung die-<br />
ses Attributs festlegt. Sie handeln eben nicht nur von spezifischen Problemen einer Minderheit,<br />
sondern besitzen ebenso das Potential, über den exemplarischen Fall ihres eigenen sujet hinaus-<br />
zuweisen. Diese Ar<strong>bei</strong>t geht von der einfachen Grundannahme aus, dass ein Text <strong>bei</strong> der Wahl<br />
seiner Handlung, seines Inhalts notwendig eingeschränkt ist, dass dies aber nicht dazu führen<br />
darf, eben diesen Inhalt zum unverrückbaren Zentrum des Textes zu erklären, von dem aus jede<br />
Deutung kontrolliert wird 17 .<br />
Es kann eingewandt werden, ob in diesem Fall nicht überhaupt auf die literaturwissenschaftliche<br />
Untersuchung von Themen verzichtet werden sollte, die so stark mit der besonderen sozialen<br />
Verfasstheit einer bestimmten Gruppe zusammenhängen, dass dieser Zusammenhang offenbar<br />
nur unter größten Schwierigkeiten außer Acht bleiben kann. Ich möchte zu bedenken geben, dass<br />
dieser Zusammenhang zur Wahl des Autors gehört, den Text deshalb aber noch längst nicht auf<br />
eine auf ihn beschränkte Lesart limitiert. Die Frage muss, denke ich, anders gestellt werden: Wa-<br />
rum regen es gewisse Eigenschaften eines Textes an, ihn in einer bestimmten Art zu lesen oder<br />
für ihn sogar eine eigene Gruppe zu schaffen, die von der Nationalliteratur unterschwellig fern-<br />
gehalten wird 18 ? Bei der interkulturellen Literatur liegt die Vermutung nahe, dass man sich noch<br />
nicht daran gewöhnt hat (vielleicht auch nicht gewöhnen mag), dass Menschen aus Ländern, die<br />
lange Zeit als das schlechthin Andere der europäischen Zivilisation galten (Fernost, islamische<br />
Länder, Afrika) nun plötzlich in der Landessprache zur eigenen Kunstproduktion <strong>bei</strong>tragen. Die-<br />
sen Gewöhnungsprozess ein wenig anzuschieben ist ein weiteres Ziel dieser Ar<strong>bei</strong>t.<br />
Nach der Vorstellung eines Textes von Yoko Tawada (II.1), in dem die Kategorie der ethnischen<br />
Zugehörigkeit auf sehr kluge und leise Weise aufgegriffen und hinterfragt wird, soll die Debatte<br />
über die Autorschaft den ersten Bezugspunkt in meinem Interpretationsraster abgeben. Driss<br />
17 Zur Rolle des sujet als Funktion eines Textes vgl. FOUCAULT 1969, 810f.<br />
18 In Deutschland wird dieser Teil der Literaturproduktion in zentralen Organen des literarischen Lebens sogar totgeschwiegen.<br />
So existiert etwa kein Eintrag zur interkulturellen Literatur in Kindlers Literaturlexikon (KLL). Ebenso<br />
wenig werden allerdings die entsprechenden Texte und Autoren im Essay über die deutsche Literatur erwähnt, ja es<br />
existieren noch nicht einmal eigene Einträge zu Autorinnen wie Emine Sevgi Özdamar, Feridun Zaimoglu oder<br />
Aysel Özakin, um nur wenige erfolgreiche und profilierte Beispiele zu nennen.<br />
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