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Was heißt „interkulturelle Literatur“? - bei DuEPublico - Universität ...

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kes eingeschlossen und würden durch das Ereignis der Geburt am Ende des Buches wieder akti-<br />

viert 261 .<br />

Eine solche Lektüre ist vorstellbar, doch sie lässt einige Elemente des Textes ungenutzt, z.B. dass<br />

er an der Stelle der Wiedererinnerung abbricht. Natürlich kann keine Interpretation sämtliche<br />

Details eines Textes berücksichtigen, doch ich möchte als Alternative gerade eine Fokussierung<br />

auf die Elemente vorschlagen, die im Roman den Schreibprozess selbst betreffen. Man kann<br />

nämlich das Fehlen des Ursprungs in dem Zusammenhang lesen, den ich im vorangegangenen<br />

theoretischen Teil thematisiert habe: Der sprachliche Ursprung entzieht sich stets dem Zugriff<br />

des Autors. Die Schrift endet folgerichtig in L’inspecteur Ali genau dort, wo dieser Ursprung wie-<br />

der auftaucht. Der letzte Satz lautet: « Remonta soudain dans ma mémoire tout mon vieux passé,<br />

net, clair, aveuglant dans les moindres détails – ce passé que j’avais enfoui si profondément en<br />

moi. » 262 (219) Sobald die Vergangenheit klar und deutlich hervortritt, blendet sie zugleich und<br />

macht ihre Beschreibung damit unmöglich. Die verdrängte Vergangenheit, so könnte man weiter<br />

argumentieren, wird auf diese Weise formal aus dem Text ausgeschlossen.<br />

Verbindet man diesen Gedanken wiederum mit der psychoanalytischen Theorie des Traumas, so<br />

wird eine weitere Basis dafür geschaffen, dass die eigene Vergangenheit ins Unbewusste verscho-<br />

ben und so dem wachen Bewusstsein unzugänglich wird 263 . Bei Chraïbi wird dieses persönliche<br />

Unbewusste ersetzt durch ein Unbewusstes des Textes, der vor der aufkommenden Erinnerung<br />

kapituliert und zu Ende geht, ohne sie zu schildern. Es wäre immerhin möglich, diese Kapitulati-<br />

on als Unmöglichkeit zu lesen: Der Text kann sein eigenes Unbewusstes nicht thematisieren und<br />

muss deshalb die Intention verschweigen, die ihn hervorgebracht hat. Die Struktur des Traumas<br />

verhindert gerade seine Kongruenz mit bewusstem, intentionalen Verhalten. Das wache Bewusst-<br />

sein hat keine Möglichkeit, auf den Inhalt der condition seconde, auf das zweite Bewusstsein zu-<br />

zugreifen.<br />

Nun hat Derrida genau diese Struktur – abzüglich der Pathologisierung – seiner Konzeption der<br />

Erzeugung von Bedeutung zugrunde gelegt, wie sie in Signature Evénement Contexte entwickelt wird.<br />

Das strukturelle Unbewusste (inconscience structurelle) des Textes war für ihn gleichzusetzen mit der<br />

« absence essentielle de l’intention à l’actualité de l’énoncé » (DERRIDA 1971, 389). Die hier vor-<br />

geschlagene Lesart von L’inspecteur Ali würde also den Abbruch der Diegese im Moment der Er-<br />

kenntnis als mise en abyme des Schreibprozesses fassen. Die Autorintention ist im Text nicht eins<br />

261 Vgl. hierzu die psychoanalytische Theorie des Traumas, z.B. FREUD 1892.<br />

262 „Plötzlich tauchte meine ganze alte Vergangenheit wieder in meiner Erinnerung auf, deutlich, klar, blendend in<br />

den kleinsten Details – diese Vergangenheit, die ich so tief in mir vergraben hatte.“<br />

263 Freud spricht auch von einem zweiten Bewusstsein, einer condition seconde oder einem Hypnoidbewusstsein; vgl.<br />

z.B. FREUD 1892, 95.<br />

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