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Was heißt „interkulturelle Literatur“? - bei DuEPublico - Universität ...

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demnach sowohl der Figur der mise en abyme, der Geschichte in der Geschichte, als auch der Ver-<br />

wischung der Erzählebenen, wie wir sie bereits <strong>bei</strong> Driss Chraïbi kennen gelernt haben, überdies<br />

der Verschmelzung von Diegese und Realität, über die der infinite Regress überhaupt erst zu-<br />

stande kommt. Außerdem wird das Motiv des Sprechverbotes aufgerufen.<br />

Lune et Orian entspricht in weiten Teilen der gängigen Definition des Märchens, weicht nur in der<br />

Darstellungsart etwas davon ab 384 . Während nämlich <strong>bei</strong>m europäischen Volksmärchen der Ak-<br />

zent auf der Handlung liegt, Personen nur isoliert und oberflächlich, Gegenstände und Lokalitä-<br />

ten nur sparsam und knapp beschrieben werden, erinnert Lune et Orian in diesen Punkten eher an<br />

eine andere Gattung, nämlich an den hochmittelalterlichen höfischen Roman. Hier findet sowohl<br />

eine viel eingehendere Beschreibung von Gegenständen und Örtlichkeiten 385 , als auch eine stärke-<br />

re psychologische Tiefenschärfung der Figuren statt. Max Lüthi benennt die größere Wirklich-<br />

keitsnähe als ein Charakteristikum des semitischen Märchens 386 . Doch Lune et Orian passt auch<br />

ansonsten nicht ganz nahtlos in das daran anschließende Schema, das er mit Hilfe der Überlegun-<br />

gen Carl Wilhelm von Sydows beschreibt. Dieser hält für das „semitische Novellenmärchen“<br />

neben der ungleichmäßigen und asymmetrischen Komposition ein weiteres Spezifikum fest: „Es<br />

verweilt gerne <strong>bei</strong> Einzelheiten, die für die Handlung unwesentlich sind, verlegt die Handlung in<br />

wirkliche Städte und Länder, gibt den handelnden Personen wirkliche Namen und hält sich oft<br />

sogar <strong>bei</strong>m Geschlechtsregister der Helden auf“ (VON SYDOW 1927, 288).<br />

Lune et Orian verweilt nun auch bisweilen <strong>bei</strong> Beschreibungen, die für die eigentliche Handlung<br />

unwesentlich sind. Doch weder ist die Erzählung Tamzas hauptsächlich in einer realen Topogra-<br />

phie angesiedelt – wenn auch einige Namen wirklich existierender Städte in der Lebensgeschichte<br />

des Derwischs erwähnt werden – noch sind Namen und Familienstammbäume irgendwie mit der<br />

Realität verbunden. Die größere Wirklichkeitsnähe wird hier also nur durch die weniger holz-<br />

schnittartige Beschreibung von Figuren und Interieurs hergestellt, kann demnach nicht als eine<br />

Anbindung der Erzählebene an real existierende Menschen und Orte verstanden werden. Dies-<br />

bezüglich bleibt Lune et Orian vollkommen in einer wunderbaren Welt verortet und zeigt dadurch<br />

wieder eher eine Nähe zum europäischen Volksmärchen. Von diesem trennt es allerdings das<br />

nicht vorhandene glückliche Ende, denn Lune und Orian können ja durch die impulsive Reaktion<br />

des Kalifen nicht auf der Erde bleiben, sondern müssen in den verzauberten Himmelpalast zu-<br />

rückkehren, in dem Lune auf ihre Erlösung gewartet hatte. Lune et Orian passt also nicht in die<br />

herkömmlichen Schemata, sondern hat in eklektischer Weise an unterschiedlichen Traditionen<br />

teil. Daher erscheint es mir einmal mehr sinnvoll, eine vielleicht auf den ersten Blick ungewohnte<br />

384 Vgl. dazu LÜTHI 1962, 29f.<br />

385 Dies gilt bereits für viele literarische Zeugnisse des Frühmittelalters.<br />

386 LÜTHI 1962, 35.<br />

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