Was heißt „interkulturelle Literatur“? - bei DuEPublico - Universität ...
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ture, zu der Thomas Mann zweifelsohne zu rechnen ist, erlaubt es nicht, Tonis Beziehungsunfälle<br />
nur im Zusammenhang mit den bourgeoisen Heiratspraktiken am fin de siècle zu sehen. Diese sind,<br />
um mit Deleuze und Guattari zu sprechen, der soziale Hintergrund (arrière-fond social), vor dem sie<br />
sich zwar abspielen, der für sie aber genauso wenig unabdingbar wird wie sie für ihn 89 . Die indi-<br />
viduellen Angelegenheiten eines Handlungsstrangs eines Textes der grandes littératures sind viel-<br />
mehr innerhalb eines weiten Raumes gruppiert, in dem sie als individuelle Angelegenheiten ein<br />
Ensemble bilden, das sich von den kollektiven Angelegenheiten abhebt, zu denen der soziale<br />
Hintergrund zu zählen ist.<br />
In den littératures mineures hingegen ist innerhalb jeder individuellen Angelegenheit etwas anderes<br />
am Werk, das sie zu einer politischen, also einer kollektiven Angelegenheit werden lässt. „C’est en<br />
ce sens que le triangle familial se connecte aux autres triangles, commerciaux, économiques, bu-<br />
reaucratiques, juridiques, qui en déterminent les valeurs.“ (30)<br />
Deleuze und Guattari sind an dieser Stelle sehr knapp – sie handeln dieses Merkmal auf einer<br />
Seite ab. Um eines besseren Verständnisses dieses Punkts willen möchte ich deshalb hinzufügen,<br />
dass ich eine Unterscheidung zwischen einer konkreten und einer abstrakten Lesart der verschie-<br />
denen Literaturen ausmache, wenn Deleuze und Guattari auch nicht ausdrücklich von einer sol-<br />
chen Unterscheidung sprechen. Die grandes littératures lassen eine Abstraktion zu, die littérature mi-<br />
neures nicht, denn jedes private, individuelle Handlungselement in ihnen wird auf eine politische,<br />
kollektive Ebene verlegt, auf der es sich zwangsläufig mit politischen Deutungsschemata verbin-<br />
det.<br />
Das dritte Merkmal der littérature mineure transferiert dieses Muster in den Raum außerhalb des<br />
Textes. Deleuze und Guattari sprechen vom kollektiven Wert (valeur collective), den jede indivi-<br />
duelle Äußerung zwangsläufig annehme: „ce que l’écrivain tout seul dit constitue déjà une action<br />
commune, et ce qu’il dit ou fait est nécessairement politique, même si les autres ne sont pas<br />
d’accord. Le champ politique a contaminé tout énoncé“ (31). Auch das dritte Merkmal der littéra-<br />
ture mineure bewegt sich demnach maßgeblich in einer politischen Dimension. Wie ist nun aber<br />
das zweite Merkmal (tout y est politique) noch vom dritten (tout prend une valeur collective) zu unter-<br />
scheiden? Meine Antwort lautet: durch den Bereich, dem diese politische Dimension <strong>bei</strong>gefügt<br />
ist. Im Falle des zweiten Merkmals scheint mir dies der textimmanente Bereich zu sein, im Falle<br />
des dritten Merkmals das Außen des Textes, also der Bereich, in dem sich Produktion und Re-<br />
zeption eines Textes abspielen. Da<strong>bei</strong> ist ein Schriftsteller nicht einfach als Wortführer einer be-<br />
stimmten Gruppe zu sehen, denn der Rest der Gruppe kann sehr wohl nicht mit dem einverstan-<br />
89 Als Emblem für das Gegenteil einer solchen Lesart kann auf Seiten der littérature mineure einer der klassischen Texte<br />
der algerischen Literatur in französischer Sprache gelten: Kateb Yacines Nedjma (YACINE 1956). Nedjma ist hierin<br />
sowohl begehrte und vermisste Frau auf der individuellen Ebene, als auch Allegorie für das unterdrückte Algerien.<br />
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