Was heißt „interkulturelle Literatur“? - bei DuEPublico - Universität ...
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ist. Ein Buch, das auf englisch verfasst ist, gehört dann der englischen Literaturgeschichte an.<br />
Schwierigkeiten ergeben sich <strong>bei</strong> dieser Zuordnung aber für jede Art der Kreolisierung. Man<br />
müsste schon einen Standard definieren, der bestimmte, welche literarische Äußerung in deut-<br />
scher Sprache zur bundesdeutschen Literatur, welche aber zur schweizerdeutschen oder zur ös-<br />
terreichischen Literatur zählt. Gehört Gerhart Hauptmann mit seinen Theaterstücken in schlesi-<br />
scher Mundart, die heute im Bundesgebiet nur noch sehr wenige verstehen, eher zur deutschen<br />
Literatur als Şinasi Dikmen, der seine Satiren in vorbildlichstem Hochdeutsch abzufassen pflegt?<br />
Wenn ja, warum? Nur weil Schlesien einst zu Deutschland gehörte und die Türkei nicht? Damit<br />
befände man sich schon wieder auf einer anderen Ebene der Argumentation, es ginge nicht mehr<br />
um die Texte, sondern nur noch um die Herkunft der Autoren. Diesen Sachverhalt könnte man<br />
als Soziologisierung der Literatur bezeichnen, um die Tendenz zu verdeutlichen, Texte nach der Per-<br />
son des Autors und seinen Lebensumständen zu beurteilen und somit das genuin Textuelle zu<br />
vernachlässigen, das doch wohl in der Ablösung vom Autor besteht. Ähnliche Probleme gibt es<br />
natürlich auch in sämtlichen ehemaligen Kolonialgebieten.<br />
Die Position des Autors hervorzuheben, impliziert da<strong>bei</strong> im Falle der interkulturellen Literatur<br />
noch nicht einmal eine produktionsästhetische Herangehensweise, denn es geht ja nicht um den<br />
Sinn, den der Autor vielleicht in den Text hineinlegen wollte, sondern allein um seine Biographie.<br />
Und einen Text auf die Lebensumstände zu reduzieren, in denen seine Verfasserin sich befand,<br />
ist mindestens ebenso fatal verkürzend für die Interpretation wie der Versuch, in ihm den Willen<br />
des genialen Autorsubjekts wiederfinden zu wollen. Alle diese Fragen haben eine Relevanz für die<br />
Konzeption und die thematische oder motivische Ausgestaltung eines Textes; aber die Interpreta-<br />
tion auf sie zu beschränken hieße den Text schließen, einen seiner „Pole zu isolieren“ 11 .<br />
Mögliche Kriterien der Einteilung: Ethnische Reduktion<br />
Es ist wahrscheinlich, dass die aktuelle Bewusstseinslage viel dazu <strong>bei</strong>trägt, dass die Herkunft von<br />
Autoren (und das ist ja nicht einmal richtig, man müsste genauer sagen: ihre Abstammung) zu<br />
einem Kriterium für die Einteilung ihrer Texte werden kann. Doch dies ist eine bedenkliche<br />
Entwicklung. Unter dem Deckmantel des kulturellen Hintergrundes werden soziale und biologi-<br />
sche Kategorien zur Beurteilung und Klassifizierung von Literatur herangezogen. So gesehen gibt<br />
es kein einziges Thema, dass sich einer solchen Bestimmung entziehen könnte. In einem gewis-<br />
11 ISER 1976, 39: „Verwandelt der virtuelle Ort des Werks Text und Leser in Pole einer Beziehung, dann gewinnt<br />
dieses Verhältnis selbst vorrangiges Interesse. Damit es nicht aus dem Blick gerät, darf sich die Betrachtung des<br />
Werks weder auf die eine noch auf die andere Position mit Ausschließlichkeit konzentrieren. Die Pole zu isolieren,<br />
hieße, das Werk auf die Darstellungstechnik des Textes bzw. die Psychologie des Lesers zu reduzieren und damit<br />
genau den Vorgang auszublenden, den es zu betrachten gilt.“<br />
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