Was heißt „interkulturelle Literatur“? - bei DuEPublico - Universität ...
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Das Phantasma ist nun aber in der rhetorischen Tradition gerade dazu geeignet, das, was man<br />
nicht ist und nicht sein will, vom Eigenen abzuspalten. Das Phantasma ist in diesem Sinne nicht nur<br />
eine Figur des Fremden und Ungewohnten, sondern auch eine des Verdrängens und Verges-<br />
sens 376 . Es ist da<strong>bei</strong> von besonderer Pikanterie, dass in den Feuilletons, die Jankowsky untersucht,<br />
das Element des Wunderbaren in den Texten Özdamars eher als märchenhaft, also als merveilleux<br />
im Sinne Todorovs beschrieben wird 377 und ihm deshalb die Attribute harmless und naive zugeord-<br />
net werden. Gestützt auf die Analysen Lachmanns kann man in den Texten jedoch auch weniger<br />
harmlosen Implikationen ausmachen, mennipeisch-satirische Elemente genauso wie besonderen<br />
Sprachwitz. In diesen Elementen zeigt sich das Phantasma, das das Fremde für die eigene Kultur<br />
darstellt. Natürlich, so lässt sich vorausschicken, sind in den untersuchten Texten märchenhafte,<br />
phantastische und fremdartige Elemente in der Definition Todorovs zu finden. Doch anstatt sie<br />
allein auf eine andere Erzähltradition zurückzuführen, kann man sie auch auf die eigene Erzähl-<br />
tradition hin betrachten und in ihnen Reflexionen auf die Herstellung des phantasmatischen<br />
Fremden finden. Da<strong>bei</strong> hilft die zusätzliche Dimension, die Lachmann dem Phantastischen gibt<br />
und die sich vor allem auf den willentlichen Ausschluss bestimmter Wissens- oder Sprachelemen-<br />
te aus der als eigen beschriebenen Kultur bezieht. Diese Elemente haben in den drei Traditionen,<br />
auf die Lachmann besonders hinweist, ihren Ort und müssen über sie auch mit der abendländi-<br />
schen Tradition in Zusammenhang gesehen werden.<br />
Die Verbindung von Phantastik und kultureller Alterität/Fremdheit, so könnte man einwenden,<br />
droht da<strong>bei</strong> dem grundlegenden Impetus dieser Ar<strong>bei</strong>t entgegenzulaufen, der ja gerade darin be-<br />
steht, bestimmte Motive (in diesem Fall das Wunderbare) nicht an gängige thematische Blöcke<br />
(hier: orientalische Erzähltradition) rückzubinden. Meine Argumentation wäre indes exakt gegen-<br />
läufig: Die Theorie des Phantastischen, wie sie von Renate Lachmann weiterentwickelt worden<br />
ist, inkorporiert Motive, die in bestimmten Zusammenhängen – und das kann man in der Analyse<br />
Jankowskys nachvollziehen – bisher immer in sehr eingeschränkter Weise gedeutet worden sind.<br />
Der modifizierte Begriff des Phantastischen eignet sich hingegen sehr gut dazu, eine größere All-<br />
gemeinheit im hier vertretenen Sinne, d.h. nicht im Sinne einer anthropologischen Konstante zu<br />
erklären. Das Wunderbare beschreibt da<strong>bei</strong> kein essentiell Fremdartiges, noch nicht einmal unbe-<br />
dingt historisch andere Traditionen, sondern viel grundlegender die Figur des Anderen und Un-<br />
vertrauten, wie sie auch für Verdrängungsprozesse im vermeintlich Eigenen und Bekannten Gel-<br />
tung beanspruchen können. Die Theorie der Phantastik leistet damit einen Beitrag zum Ver-<br />
376 Vgl. LACHMANN 2002, 83.<br />
377 Vgl. TODOROV 1970, 59ff. Es ist übrigens auffällig, dass Todorov für seine Beschreibung des merveilleux vorwiegend<br />
Beispiele aus 1001 Nacht benutzt.<br />
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