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Was heißt „interkulturelle Literatur“? - bei DuEPublico - Universität ...

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geschehen ferngehalten haben. Interessant ist, dass die Suche nach der Erinnerung in den Archi-<br />

ven von München, New York und Chicago François vor dem Krieg bewahrt und somit seine<br />

spätere Beziehung zu Thelja überhaupt erst ermöglicht (219). Diese Erinnerung, die für Thelja<br />

etwa den gleichen Stellenwert hat wie der zweite Weltkrieg für ihre Freundin Eve, ist für François<br />

also gar nicht vorhanden. Er hat nur Erinnerungen an seine eigene Kindheit, an die Besatzungs-<br />

zeit und an die Vertreibung aus Strasbourg. Die Erinnerungen von François und Thelja bleiben<br />

über das ganze Buch so verteilt. Als er über seine Kriegserlebnisse spricht, hört sie ihm zwar zu,<br />

animiert ihn auch zum Weitersprechen, doch hält sie eine Distanz zum Erzählten aufrecht,<br />

„comme si elle désirait, non pas s’insinuer dans ce passé“ 363 (131). Für sie erscheint François oh-<br />

nehin gefangen in der Vergangenheit, in alten Erinnerungen. So kommentiert Thelja auch seine<br />

Erzählung mit den Worten: „Le narrateur ne semblait rien entendre du présent“ 364 (127), sie cha-<br />

rakterisiert die Erinnerungen etwas später zudem als „fantômes“ 365 (129), die François mit der<br />

Sprache zu bändigen suche. Andere Geister, die François in der Vergangenheit festhalten, sind<br />

seine verstorbene Mutter (121ff) und seine verstorbene Frau; gerade die Beziehung zu letzterer<br />

fordert Thelja <strong>bei</strong> ihrem gemeinsamen Besuch in François’ Elternhaus heraus (205f); sie möchte<br />

François dazu bringen, sie vor dem Foto seiner Frau zu küssen, was dieser auch tut, doch nicht,<br />

ohne dem Bildnis den Rücken zuzudrehen. Diese Geste allein stellt die Lebendigkeit der Vergan-<br />

genheit für das Leben François’ unter Beweis.<br />

Ihrer Freundin Eve gegenüber fasst Thelja zusammen, wie sie François wahrnimmt:<br />

« Un homme veuf. Un veuf dont je ne sais même pas s’il est toujours inconsolable… Cela,<br />

en fait, m’est égal : je le découvre soudain. S’il est hanté par l’autre, celle qu’il a perdue<br />

[…] peut-etre qu’au fond, c’est cela qui m’attire : je fais l’amour avec un étranger, et en<br />

plus il est comme sourd. Il semble m’entendre […], mais tout ce que je dis, ce que je veux<br />

dire, ce que j’oserai avouer, peut-être qu’il ne l’entend pas vraiment, ou quand cela lui parvient,<br />

c’est trop tard !… Je ne serai plus là ! » 366 (106)<br />

Hier stellt Thelja sich zunächst als eine Verfechterin des Augenblicks dar: Sie gibt vor, ihr sei das<br />

gedankliche Verharren in der Vergangenheit, das François so sehr von ihr trennt, im Grunde<br />

gleichgültig, als genieße sie es geradezu, mit einem Fremden die Nächte zu verbringen. Der<br />

Fremde, den Thelja damit entwirft, ist hier zunächst ein völlig mit sich selbst beschäftigter<br />

Mensch; ein Mensch, dem es nicht gelingt, das zu hören, was sein Gegenüber sagt; ein Mensch,<br />

der nichts von dem wahrnimmt, was selbst in seinen intimen Beziehungen abläuft, weil er so sehr<br />

363 „als wolle sie in diese Vergangenheit nicht eindringen“.<br />

364 „Der Erzähler schien von der Gegenwart nichts zu hören“.<br />

365 „Geister“.<br />

366 „Ein verwitweter Mann. Ein Witwer, von dem ich nicht einmal weiß, ob er immer noch untröstlich ist... Doch das<br />

ist mir eigentlich egal: Ich entdecke ihn plötzlich. Wenn die andere in ihm spukt, die, die er verloren hat [...] vielleicht<br />

ist es im Grunde das, was mich anzieht: Ich schlafe mit einem Fremden, und außerdem ist er wie taub. Er scheint<br />

mich zu hören [...], aber alles, was ich sage, was ich sagen will, was ich zu gestehen wagte, vielleicht hört er es nicht<br />

wirklich; oder vielleicht ist es zu spät, wenn es zu ihm durchdringt!... Ich werde nicht mehr da sein!“<br />

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