Was heißt „interkulturelle Literatur“? - bei DuEPublico - Universität ...
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wie in den Einlassungen Goethes zum Urheberrechtsstreit. Hier wie da hatte sie jedenfalls mit<br />
ökonomischem Erfolg zu tun, der über diesen Weg auch Orourke erreicht.<br />
Es ist also zu bemerken, dass dieser zunächst Literatur und Ernsthaftigkeit strikt trennt. Das än-<br />
dert sich im Laufe des Romans und diese Veränderung ist sein eigentliches Thema und sie ist<br />
ebenfalls eine Veränderung der Einstellung des Autors (Orourke) zu seinem Werk. Die Kriminal-<br />
romane um die Figur des Inspecteur Ali sind für Orourke zwar Garant seines finanziellen Erfol-<br />
ges, repräsentieren aber gleichzeitig die immer drängender werdende Gleichgültigkeit gegenüber<br />
der wirklichen Welt. Orourke fasst daher den Entschluss, einen ernsthaften Roman zu schreiben,<br />
einen, in dem der Inspecteur Ali nichts zu suchen hat – ein Unterfangen, das sich als unmöglich<br />
herausstellen wird, denn der Inspecteur Ali entwickelt im Laufe des Romans ein seltsames Eigen-<br />
leben und drängt derart gestärkt auch in den Versuch Orourkes, ernsthafte Literatur zu produzie-<br />
ren, d.h. er taucht gegen den Willen Brahims als Figur in diesem Text auf (z.B. 213).<br />
Formal ist das Buch in drei Abschnitte gegliedert, die sich – für die ersten <strong>bei</strong>den Abschnitte –<br />
am Besuch von Orourkes britischen Schwiegereltern in Marokko orientieren. Der dritte Ab-<br />
schnitt ist mit dem sprechenden Titel L’auteur versehen, der auf das durchgängige Thema – das<br />
Verhältnis von Autor und Text – hinweist und für seine Strukturierung eine entscheidende Rolle<br />
spielt. Denn hier verliert der Protagonist seine partielle Amnesie, die an einigen Stellen des Bu-<br />
ches – eher <strong>bei</strong>läufig – erwähnt wird: Orourke kann sich an seine Kindheit nicht erinnern. Diese<br />
verbindet ihn aber eigentlich erst mit Marokko, denn später – den genauen Zeitpunkt erfährt man<br />
nicht – ist er ja nach Frankreich emigriert, um erst als gefeierter und erfolgreicher Schriftsteller in<br />
die Heimat zurückzukehren.<br />
Das Band der Kindheitserinnerung existiert im Text also zunächst nicht, es entsteht erst, als er<br />
endet und von der Zeit danach ist naturgemäß auf textuellem Weg nichts zu erfahren. Der Ro-<br />
man verzichtet auf eine direkte Antwort auf die Frage nach dem Ursprung literarischen Schaf-<br />
fens, ein Umstand, der zwei unterschiedliche Interpretationen erlaubt.<br />
Zunächst wäre eine traumatische Lesart denkbar. Diese würde der verbreitetsten Lektüre der<br />
interkulturellen Literatur, die einen Zusammenhang zwischen persönlicher Erfahrung und Text<br />
herstellen will, am nächsten kommen. Sie ließe sich problemlos ins Werk Chraïbis einordnen,<br />
denn schon in Le passé simple waren ja die entwürdigenden und gewalttätigen Lebensbedingungen<br />
der Hauptfigur Driss Ferdi beschrieben worden; und dieser Hauptfigur war, ebenso wie Brahim<br />
Orourke im vorliegenden Fall, ein autobiographisches Substrat zugeordnet worden. Die schreck-<br />
lichen Demütigungen der Kindheit wären in dieser Lesart in einem zweiten Bewusstsein Orour-<br />
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