Was heißt „interkulturelle Literatur“? - bei DuEPublico - Universität ...
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Handelnde Frauen<br />
Betrachten wir nun etwas genauer die im Roman geplante Aufführung der sophokleischen Anti-<br />
gone 323 , die schließlich wegen des Mordes an ihrer Regisseurin Jacqueline abgesagt wird. Die Lese-<br />
rin erfährt zum ersten Mal von diesem Projekt während der großen Abendgesellschaft, der Stelle<br />
im Roman, an der alle Hauptfiguren versammelt sind. Dort erzählt Thelja von einer Szene aus<br />
ihrer Kindheit. Als Theljas Vater, ein Widerstandskämpfer gegen die französische Kolonialmacht,<br />
1959 im Kampf getötet wurde, war ihre Mutter gerade schwanger mit ihr. Als Thelja fünf oder<br />
sechs war, kam es dann zur folgenden Eröffnung der Großmutter väterlicherseits: „’ma consola-<br />
tion, c’est que mon fils, juste avant de mourir brave au combat, mon fils a su que sa femme lui<br />
donnerait un héritier!’“ Thelja ist noch Jahre später entsetzt über diese Aussage: „Je ne plaisante<br />
pas; à moi, fille unique et née orpheline, ma grand-mère tenait ce discours fièrement […] Jacque-<br />
line, qui du fond la contemple, se dit que l’athmosphère de la répétition d’Antigone continue, que<br />
se prolonge un étrange écho“ 324 (174f).<br />
Dieser Einwurf Jacquelines verweist auf eine wichtige Dimension der Antigone, die in der Usurpa-<br />
tion der männlichen Geschlechterrolle besteht. In der sophokleischen Version beharrt Kreon<br />
gerade deshalb auf der Strafe für Antigone, weil er sonst seine Geschlechtsidentität bedroht sähe:<br />
„Wenn sie sich ungestraft das leisten darf,/Bin ich kein Mann mehr, dann ist sie der Mann!“<br />
(SOPHOKLES ca. 442 v.Chr., V.484f). Das Verbrechen, das Antigone sich leistet, ist die Bestattung<br />
Polyneikes’. Dieser hatte Theben angegriffen und war da<strong>bei</strong> durch die Hand seines Bruders Ete-<br />
okles umgekommen. Kreon hatte daraufhin verfügt, dass der eine Bruder mit allen Ehren bestat-<br />
tet werden dürfe, der andere hingegen unbestattet den Hunden und Geiern zum Fraß dargeboten<br />
werden solle: „Dagegen seinen Bruder, Polyneikes,/ Der landverwiesen war und wiederkam/Und<br />
seiner Väter Stadt und Götterbilder/Verbrennen wollte, den’s gelüstete,/Sein eigen Volk zu<br />
morden zu versklaven,/Dem wird, so gab ich dieser Stadt bekannt,/Kein Grab zuteil und keine<br />
Totenklage.“ (V.198ff)<br />
Worin besteht nun das étrange écho, das Jacqueline in der Geschichte Theljas ausmacht? Vielleicht<br />
in der Übertretung, die sich Theljas Mutter anmaßt, indem sie sich das Recht der Namensgebung<br />
323 In einer der raren Interpretationen der Nuits de Strasbourg behauptet Michael O’Riley fälschlich, die Theatergruppe<br />
„decides to stage a hyphenated version of Sophocle’s work which they will call ‚Djamila-Antigone’“. Diese Aussage<br />
ist zwar definitiv falsch und nirgends im Text zu belegen, doch sie erlaubt O’Riley natürlich eine der üblichen Lesarten<br />
auf einen Kulturtausch hin: „The aim of the actors’ project is the translation of a Western cultural text through<br />
its representation by actors of Maghrebian heritage.“ (O’RILEY 2002, 1243) Die herkömmliche Einordnung der<br />
interkulturellen Literatur in derartige Schemata verleitet offenbar manchen schon dazu, Details in den Text zu phantasieren,<br />
die ihr entgegenkommen.<br />
324 „’mein Trost ist, dass mein Sohn unmittelbar bevor er tapfer im Kampf gestorben ist, erfahren hat, dass seine<br />
Frau ihm einen Erben schenken würde!’ Ich mache keine Witze; mir, der einzigen Tochter, als Waise geboren, hielt<br />
meine Großmutter stolz diese Rede [...] Jacqueline, die sie von weitem ansieht, sagt sich, dass sich die Atmosphäre<br />
der Probe der Antigone fortsetzt, dass ein eigenartiges Echo widerhallt“.<br />
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