Der Wahrheit nicht ganz verpflichtet Esperanto in ... - Plansprachen.ch
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Zukunftserwartungen oder utopis<strong>ch</strong>e Projektionen wirksam <strong>in</strong>terpretieren liessen. Die moderne<br />
marxistis<strong>ch</strong>e Literatur, quantitativ überaus ansehnli<strong>ch</strong>, ma<strong>ch</strong>t e<strong>in</strong>en deprimierenden E<strong>in</strong>druck von<br />
Sterilität und Kraftlosigkeit, <strong>ganz</strong> zu s<strong>ch</strong>weigen von den historis<strong>ch</strong>en Beiträgen.“ 155<br />
Was Wuns<strong>ch</strong>traum und Wirkli<strong>ch</strong> des Kommunismus betrifft, hielt der ho<strong>ch</strong><strong>in</strong>teressante<br />
sowjetrussis<strong>ch</strong>e Logiker und Kommunist Al. S<strong>in</strong>owjew Anfang der 80er Jahre <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Bu<strong>ch</strong><br />
‚Kommunismus als Realität’ das Folgende fest:<br />
„Die Ideale des Kommunismus s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Sowjetunion und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Reihe von anderen<br />
Ländern vollständig realisiert worden. Aber diese Realität hat si<strong>ch</strong> als do<strong>ch</strong> <strong>ni<strong>ch</strong>t</strong> <strong>ganz</strong> so s<strong>ch</strong>ön<br />
erwiesen, wie man es früher erträumt und vorausgesetzt hatte. Die Realität des Kommunismus bra<strong>ch</strong>te<br />
Probleme, Gegensätze und Missstände hervor, die <strong>ni<strong>ch</strong>t</strong> weniger ausgeprägt waren als diejenigen, die<br />
se<strong>in</strong>erzeit die Ideale des Kommunismus hervorgebra<strong>ch</strong>t hatten und die er hätte überw<strong>in</strong>den sollen. Die<br />
Realität des Kommunismus hat erwiesen, dass die Ausbeutung der e<strong>in</strong>en Mens<strong>ch</strong>en dur<strong>ch</strong> die anderen<br />
sowie vers<strong>ch</strong>iedene Formen von sozialer und wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er Unglei<strong>ch</strong>heit im Kommunismus <strong>ni<strong>ch</strong>t</strong><br />
aufgehoben werden, sondern nur ihre Gestalt ändern und si<strong>ch</strong> <strong>in</strong> man<strong>ch</strong>er Beziehung no<strong>ch</strong><br />
verstärken.“ 156<br />
Über den Charakter der Ideologie des Stal<strong>in</strong>ismus hielt der US-Diplomat und Kommunismus-<br />
Kenner George F. Kennan <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Memoiren das Folgende fest (dtv 4/1983, S. 78):<br />
„(...) Die Ideologie ma<strong>ch</strong>te mi<strong>ch</strong> nur ärgerli<strong>ch</strong>. Für mi<strong>ch</strong> war sie e<strong>in</strong>e Pseudowissens<strong>ch</strong>aft<br />
voller erfundener Helden und Bösewi<strong>ch</strong>ter; und so sehr i<strong>ch</strong> an den sowjetis<strong>ch</strong>en Führern den Mut, die<br />
Ents<strong>ch</strong>lossenheit und den politis<strong>ch</strong>en Ernst bewunderte, so sehr empfand i<strong>ch</strong> Ekel für die anderen<br />
Seiten ihrer politis<strong>ch</strong>en Persönli<strong>ch</strong>keit: ihren zur S<strong>ch</strong>au getragenen Hass und ihre Verwerfung grosser<br />
Gruppen von Mens<strong>ch</strong>en, ihre endlosen Grausamkeiten, ihren Anspru<strong>ch</strong> auf Unfehlbarkeit, ihren<br />
Opportunismus und die Gewissenlosigkeit ihrer Methoden, ihre Ger<strong>in</strong>gs<strong>ch</strong>ätzung der <strong>Wahrheit</strong>, ihre<br />
vers<strong>ch</strong>wöreris<strong>ch</strong>e Geheimtuerei, und vor allem anderen die Ma<strong>ch</strong>tgier, die so oft und so offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong><br />
h<strong>in</strong>ter ihren s<strong>ch</strong>e<strong>in</strong>bar erhabenen ideologis<strong>ch</strong>en Überzeugungen lauerte.“<br />
Wie ke<strong>in</strong> anderer Systemkritiker hat Václav Havel die skrupellosen Ma<strong>ch</strong>ens<strong>ch</strong>aften, Lügen<br />
und Täus<strong>ch</strong>ungen des kommunistis<strong>ch</strong>en Systems entlarvt und mit zutreffenden Beispielen konkret<br />
bes<strong>ch</strong>rieben, so wie im Essay ‚Versu<strong>ch</strong>, <strong>in</strong> der <strong>Wahrheit</strong> zu leben’ (1978, dt. rororo 1989):<br />
„Das posttotalitäre 157 System verfolgt mit se<strong>in</strong>en Ansprü<strong>ch</strong>en den Mens<strong>ch</strong>en fast auf S<strong>ch</strong>ritt<br />
und Tritt. Es verfolgt ihn freili<strong>ch</strong> <strong>in</strong> ideologis<strong>ch</strong>en Hands<strong>ch</strong>uhen. Deshalb ist das Leben <strong>in</strong> diesem<br />
System von e<strong>in</strong>em Gewerbe der Heu<strong>ch</strong>elei und Lüge dur<strong>ch</strong>setzt: Die Ma<strong>ch</strong>t der Bürokratie wird Ma<strong>ch</strong>t<br />
des Volkes genannt; im Namen der Arbeiterklasse wird die Arbeiterklasse versklavt; die<br />
allumfassende Demütigung des Mens<strong>ch</strong>en wird für se<strong>in</strong>e def<strong>in</strong>itive Befreiung ausgegeben; Isolierung<br />
von der Information wird für den Zugang zur Information ausgegeben; die Manipulierung dur<strong>ch</strong> die<br />
Ma<strong>ch</strong>t nennt si<strong>ch</strong> öffentli<strong>ch</strong>e Kontrolle der Ma<strong>ch</strong>t, und die Willkür nennt si<strong>ch</strong> die E<strong>in</strong>haltung der<br />
Re<strong>ch</strong>tsordnung; die Unterdrückung der Kultur wird als ihre Entwicklung gepriesen; die Ausbreitung<br />
des imperialen E<strong>in</strong>flusses wird für Unterstützung der Unterdrückung ausgegeben; Unfreiheit des<br />
Wortes für die hö<strong>ch</strong>ste Form der Freiheit; die Wahlposse für die hö<strong>ch</strong>ste Form der Demokratie; Verbot<br />
des unabhängigen Denkens für die wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>ste Weltans<strong>ch</strong>auung; Okkupation für brüderli<strong>ch</strong>e<br />
Hilfe. Die Ma<strong>ch</strong>t muss fäls<strong>ch</strong>en, weil sie <strong>in</strong> eigenen Lügen gefangen ist. Sie fäls<strong>ch</strong>t die Vergangenheit,<br />
die Gegenwart und die Zukunft. Sie fäls<strong>ch</strong>t statistis<strong>ch</strong>e Daten. Sie täus<strong>ch</strong>t vor, dass sie ke<strong>in</strong>en<br />
allmä<strong>ch</strong>tigen und zu allem fähigen Polizeiapparat hat, sie täus<strong>ch</strong>t vor, dass sie die Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te<br />
respektiert, sie täus<strong>ch</strong>t vor, dass sie niemanden verfolgt, sie täus<strong>ch</strong>t vor, dass sie ke<strong>in</strong>e Angst hat, sie<br />
täus<strong>ch</strong>t vor, dass sie <strong>ni<strong>ch</strong>t</strong>s vortäus<strong>ch</strong>t.“<br />
„<strong>Der</strong> Mens<strong>ch</strong> wird [<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sol<strong>ch</strong>en posttotalitären System] zum Leben <strong>in</strong> Lüge gezwungen,<br />
kann aber nur deshalb dazu gezwungen werden, weil er imstande ist, so zu leben. Ni<strong>ch</strong>t nur, dass das<br />
System den Mens<strong>ch</strong>en entfremdet – der entfremdete Mens<strong>ch</strong> stützt dieses System zuglei<strong>ch</strong> als e<strong>in</strong>e<br />
unwillkürli<strong>ch</strong>e Projektion se<strong>in</strong>es I<strong>ch</strong>s. Als erniedrigtes Bild se<strong>in</strong>er eigenen Erniedrigung. Als<br />
Dokument se<strong>in</strong>es Versagens.“<br />
155 Zagajewski, ebd. S. 83f.<br />
156 Al. S<strong>in</strong>owjew: Kommunismus als Realität. Diogenes 1981. S. 36f.<br />
157 Bei „posttotalitären“ Systemen bezog si<strong>ch</strong> Havel v.a. auf die kommunistis<strong>ch</strong>en Regime unter den Post-Stal<strong>in</strong>isten à la<br />
Novotny/Husak, Ulbri<strong>ch</strong>t/Honecker, Gomulka, Breznev u.ä.<br />
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