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Der Wahrheit nicht ganz verpflichtet Esperanto in ... - Plansprachen.ch

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„Da das ‚Leben <strong>in</strong> Lüge’ die Grundstütze des Systems ist, ist es ke<strong>in</strong> Wunder, dass das ‚Leben<br />

<strong>in</strong> <strong>Wahrheit</strong>’ e<strong>in</strong>e Grundbedrohung für das System bedeutet, Deshalb muss es härter verfolgt werden<br />

als alles andere.“<br />

„In den Gesells<strong>ch</strong>aften des posttotalitären Systems ist jegli<strong>ch</strong>es politis<strong>ch</strong>es Leben im<br />

traditionellen S<strong>in</strong>ne des Wortes ausgerottet.. Die Mens<strong>ch</strong>en haben ke<strong>in</strong>e Mögli<strong>ch</strong>keit, si<strong>ch</strong> öffentli<strong>ch</strong><br />

zu äussern, ges<strong>ch</strong>weige denn, si<strong>ch</strong> politis<strong>ch</strong> zu organisieren. Die Lücke, die dadur<strong>ch</strong> entsteht, wird voll<br />

mit dem ideologis<strong>ch</strong>en Ritual gestopft. Das Interesse der Mens<strong>ch</strong>en für politis<strong>ch</strong>e Angelegenheiten<br />

wird <strong>in</strong> dieser Situation selbstverständli<strong>ch</strong> ger<strong>in</strong>ger. Das unabhängige politis<strong>ch</strong>e Denken und die<br />

politis<strong>ch</strong>e Arbeit – falls es so etwas <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Art überhaupt existiert – kommt den meisten<br />

Mens<strong>ch</strong>en irreal und abstrakt vor, als Spiel um des Spiels willen, was ihren harten alltägli<strong>ch</strong>en Sorgen<br />

hoffnungslos fern steht. Es ist viellei<strong>ch</strong>t sympathis<strong>ch</strong>, aber <strong>ganz</strong> überflüssig, weil es e<strong>in</strong>erseits utopis<strong>ch</strong><br />

und andererseits sehr gefährli<strong>ch</strong> ist, denn jeder Versu<strong>ch</strong> <strong>in</strong> dieser Ri<strong>ch</strong>tung wird von der<br />

gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Ma<strong>ch</strong>t besonders hart bestraft.“<br />

Da es um das Problem der <strong>Wahrheit</strong> geht, sei no<strong>ch</strong> e<strong>in</strong>mal Václav Havel zitiert, der <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

Essay ‚Versu<strong>ch</strong>, <strong>in</strong> der <strong>Wahrheit</strong> zu leben’, Kap. 7, Folgendes s<strong>ch</strong>rieb: „Solange das ‚Leben <strong>in</strong> Lüge’<br />

<strong>ni<strong>ch</strong>t</strong> mit dem ‚Leben <strong>in</strong> <strong>Wahrheit</strong>’ konfrontiert wird, gibt es ke<strong>in</strong>e Perspektive, die se<strong>in</strong>e Verlogenheit<br />

enthüllen könnte. Sobald si<strong>ch</strong> aber e<strong>in</strong>e Alternative zeigt, werden sie <strong>in</strong> ihrem Wesen, <strong>in</strong> ihrem<br />

Grundlagen und <strong>in</strong> ihrer Ganzheit bedroht.“ Dies traf auf die <strong>Esperanto</strong>-Bewegung im Ostblock zu.<br />

Anlässli<strong>ch</strong> der Verleihung des Ehrendoktors dur<strong>ch</strong> die Universität Toulouse 1984 fügte Havel<br />

zum Charakter der totalen Herrs<strong>ch</strong>aft à la Sowjetkommunismus, der au<strong>ch</strong> die politis<strong>ch</strong>e Moral <strong>in</strong> der<br />

Ts<strong>ch</strong>e<strong>ch</strong>oslowakei und den östli<strong>ch</strong>en Na<strong>ch</strong>barländern fundamental zerstört hatte, h<strong>in</strong>zu: „Es ist die<br />

totale Herrs<strong>ch</strong>aft e<strong>in</strong>er aufgeblähten, anonym bürokratis<strong>ch</strong>en, unpersönli<strong>ch</strong>en Ma<strong>ch</strong>t, ke<strong>in</strong>eswegs nur<br />

mehr unverantwortli<strong>ch</strong>, sondern s<strong>ch</strong>on ausserhalb jedes Gewissens operierend; es ist e<strong>in</strong>e Ma<strong>ch</strong>t, die<br />

auf die Allgegenwart e<strong>in</strong>er ideologis<strong>ch</strong>en Fiktion gestützt ist, die alles begründet, ohne je die <strong>Wahrheit</strong><br />

berühren zu müssen; die Ma<strong>ch</strong>t als e<strong>in</strong> Universum der Kontrolle, der Repression und der Angst; die<br />

Ma<strong>ch</strong>t, die das Denken, die Moral und das Private verstaatli<strong>ch</strong>t und also entmens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>t; die Ma<strong>ch</strong>t,<br />

die s<strong>ch</strong>on lange <strong>ni<strong>ch</strong>t</strong> mehr e<strong>in</strong>e Angelegenheit e<strong>in</strong>er Gruppe willkürli<strong>ch</strong>er Herrs<strong>ch</strong>er ist, sondern jeden<br />

okkupiert und vers<strong>ch</strong>l<strong>in</strong>gt, bis zum S<strong>ch</strong>luss jeder irgendwie an ihr partizipiert, und wenn es nur dur<strong>ch</strong><br />

se<strong>in</strong> S<strong>ch</strong>weigen ges<strong>ch</strong>ieht; die Ma<strong>ch</strong>t, die eigentli<strong>ch</strong> niemand mehr hat, weil im Gegenteil sie alle hat;<br />

es ist dies e<strong>in</strong> Monstrum, das <strong>ni<strong>ch</strong>t</strong> die Mens<strong>ch</strong>en leitet, sondern das im Gegenteil die Mens<strong>ch</strong>en dur<strong>ch</strong><br />

se<strong>in</strong>e ‚objektive’ (d.h. von allen mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Massstäben e<strong>in</strong>s<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> dem Verstande emanzipierte<br />

und als gänzli<strong>ch</strong> irrationale) Eigenbewegung mitzieht <strong>in</strong> e<strong>in</strong> S<strong>ch</strong>recken erregendes Unbekanntes.“ <strong>Der</strong><br />

„beste Widerstand gegen die Totalität sei „es e<strong>in</strong>fa<strong>ch</strong>, sie aus der eigenen Seele zu vertreiben, aus der<br />

eigenen Umgebung, aus dem eigenen Land, aus dem zeitgenössis<strong>ch</strong>en Mens<strong>ch</strong>en.“ 158 Diesem Rat<br />

folgten die Mens<strong>ch</strong>en des Ostblocks im annus mirabilis 1989.<br />

Es versteht si<strong>ch</strong> von selbst, dass sol<strong>ch</strong>e Diktionen <strong>in</strong> der Presse der sozialistis<strong>ch</strong>en Länder<br />

niemals zu lesen gewesen waren.<br />

Fazit<br />

Als zeithistoris<strong>ch</strong> und weltpolitis<strong>ch</strong> <strong>in</strong>teressierter Esperantist, der seit 1979 die Ereignisse der<br />

<strong>Esperanto</strong>-Bewegung im In- und Ausland, vor allem au<strong>ch</strong> <strong>in</strong> Osteuropa, beoba<strong>ch</strong>tet, fühle i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong><br />

von dieser DDR-Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te emotional berührt und betroffen. 159 Zwanzig Jahre na<strong>ch</strong> dem Ende des<br />

158 Aus: Havel, V. Politik und Gewissen. In: Havel, V.: Am Anfang war das Wort. Rororo 1990, S. 98.<br />

159 I<strong>ch</strong> hatte se<strong>in</strong>erzeit <strong>ni<strong>ch</strong>t</strong> nur sämtli<strong>ch</strong>e Ostblockstaaten ausgiebig bereist, sondern verlebte zudem als Slavistik-Student<br />

au<strong>ch</strong> 2 Semester <strong>in</strong> der SU (<strong>ni<strong>ch</strong>t</strong> im Ausländer-Ghetto), besu<strong>ch</strong>te Ostberl<strong>in</strong> und fuhr mit dem Zug mehrmals dur<strong>ch</strong> die DDR,<br />

wo mir die rüden Gepflogenheiten der Grenz- und ZollbeamtInnen auffielen. Ferner abonnierte i<strong>ch</strong> das Neue Deuts<strong>ch</strong>land<br />

während vieler Jahre und lernte e<strong>in</strong>ige DDR-Bürger kennen. Freili<strong>ch</strong> ersetzen sol<strong>ch</strong>e flü<strong>ch</strong>tigen Kontakte die e<strong>in</strong>s<strong>ch</strong>lägigen<br />

Erfahrungen e<strong>in</strong>es Lebens <strong>in</strong> der DDR <strong>ni<strong>ch</strong>t</strong>. Ob andererseits e<strong>in</strong> jeder DDR-Bürger per se als ‚DDR-kompetent’ gehalten<br />

werden kann/muss, um die Lage <strong>in</strong> der DDR ri<strong>ch</strong>tig zu beurteilen, nur weil er DDR-Bürger war, ist m.E. zu bezweifeln, denn<br />

viele DDR-Bürger waren wegen der allumfassenden totalen Pressezensur und der Unterdrückung von Informationen selbst<br />

über die reale Lage im Land gar <strong>ni<strong>ch</strong>t</strong> im Bild gewesen und viele <strong>in</strong>teressierten si<strong>ch</strong> ‚fa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>’ au<strong>ch</strong> gar <strong>ni<strong>ch</strong>t</strong> dafür oder<br />

verloren ihr Interesse, weil es gar <strong>ni<strong>ch</strong>t</strong> mögli<strong>ch</strong> war, si<strong>ch</strong> mit Ausnahme des Westfernsehens über die wirkli<strong>ch</strong>e Lage <strong>in</strong> der<br />

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