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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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Eine kompliziertere semiotische Struktur besitzt das Bild der Bonner Passagiere, <strong>die</strong><br />

„wenig […] bei sich“ sind. Hier wird der ´Schlaf der Nation´ wieder mit dem Schlaf oder der<br />

Bewußtlosigkeit des Einzelnen anschaulich gemacht. Aber <strong>die</strong>se Bewußtlosigkeit ist selbst<br />

´nur´ eine Metapher für <strong>die</strong> Entfernung vom wahren Selbst.<br />

<strong>Die</strong> anderen Reisenden auf dem Bahnsteig in ihrer Kompaktheit, Adrettheit, Gepflegtheit, Zielgerichtetheit<br />

kamen ihm plötzlich vor wie halbe Menschen. Lauter Halbierte strebten da hin <strong>und</strong> her. <strong>Die</strong> anderen Hälften<br />

liefen in Leipzig hin <strong>und</strong> her. <strong>Die</strong> hier leuchteten, gleißten geradezu in ihrer Entwickeltheit <strong>und</strong><br />

Fortgerissenheit. […] Aber wie wenig waren sie bei sich. Alle leuchteten vor Gelungenheit, aber keiner<br />

schien zufrieden zu sein. Sie wissen nicht, was ihnen fehlt. Und keiner würde, fragte man ihn, sagen, ihm<br />

fehle seine Leipziger Hälfte, sein Dresdener Teil, seine mecklenburgische Erstreckung, seine thüringische<br />

Tiefe. Man sollte es auf einem Bahnsteig laut sagen. Aber er traute sich nicht. Aber er w<strong>und</strong>erte sich, warum<br />

keiner ausrief: Wir sind Halbierte. Und er am meisten. (S. 54f)<br />

In <strong>die</strong>sem Passus geht <strong>die</strong> Rede des Erzählers in <strong>die</strong> erlebte Rede Wolfs, <strong>die</strong>se in seinen<br />

inneren Monolog <strong>und</strong> <strong>die</strong>ser wiederum in <strong>die</strong> Rede des Erzählers über. Der Satz von den<br />

Reisenden am Bonner Bahnhof, <strong>die</strong> nicht „bei sich“ sind, wird in der erlebten Rede Wolfs<br />

vorgetragen. <strong>Die</strong>smal ist es also nicht <strong>die</strong> erzählerische Komposition, sondern eine Figur, <strong>die</strong><br />

ein Symbol der ´schlafenden Nation´ schafft. <strong>Die</strong> schlafenden oder bewußtlosen Passagiere<br />

sind gleichzeitig halbiert, sie sind eine Metapher des zerstückelten nationalen Körpers.<br />

Zugleich sind sie symbolische Erscheinungsformen <strong>die</strong>ses nationalen Körpers, eines<br />

Sinnzusammenhangs, den sie selbst erst metaphorisch herstellen müssen. In seinem<br />

Symposion vergleicht Platon <strong>die</strong> Liebenden ebenfalls mit zwei getrennten Körperhälften.<br />

Platons Diotima sagt:<br />

[…] you hear people say that lovers are seeking for their other half […] 1<br />

Im Unterschied zu Platons Liebenden haben aber <strong>die</strong> Bonner „Halbierte[n]“ <strong>die</strong> Beziehung zu<br />

ihrer anderen Körperhälfte gekappt.<br />

<strong>Die</strong> metaphorische Analogie mit Platons Symposion läßt sich weiter ausbauen. Das<br />

erotische Begehren gründet Platon auf „a mean“, eine mittlere Lage, in der <strong>die</strong> oder der<br />

Begehrende sich befinden muß. Ihr Bedürfnis darf nicht erfüllt, aber auch noch nicht<br />

erloschen sein, „there is no desire if there is no feeling of want“ 2 . Genau das ist aber der Fall<br />

bei den „Halbierte[n]“, <strong>die</strong> in der Hauptstadt der alten B<strong>und</strong>esrepublik unterwegs sind. Sie<br />

„wissen nicht“, so Wolf in seinem inneren Monolog, „was ihnen fehlt“. Sie haben von dem<br />

nationalen Körper so lange getrennt gelebt, daß sie nicht mehr begehren, sich ihm<br />

anzuschließen. Ihr Begehren ist erloschen, es mangelt ihnen an dem „subjektive[n] Wille[n]<br />

zur Nation“ 3 , wie Fichte in seiner 14. Rede an <strong>die</strong> deutsche Nation formuliert.<br />

Schuld an <strong>die</strong>sem Mangel ist nach Wolf <strong>die</strong> politische Indoktrination. Für Wolf sind <strong>die</strong><br />

BRD <strong>und</strong> <strong>die</strong> DDR zwei inhaltlich konträre, aber strukturell gleiche Gebilde, <strong>die</strong> beide gleich<br />

negativ zu bewerten sind. Dadurch verwischt Wolf den Unterschied zwischen der<br />

B<strong>und</strong>esrepublik <strong>und</strong> der DDR.<br />

1<br />

Zit. nach: Robert M. Stewart (Hrsg.), Philosophical Perspectives on Sex and Love, Oxford: Oxford University<br />

Press, 1995, S. 186.<br />

2<br />

Ibidem, S. 185. Zu <strong>Walsers</strong> Platon-Rezeption vgl. das Kapitel 1.2.1.<br />

3<br />

Zit. nach: Otto Kallscheuer – Claus Leggewie, „Deutsche Kulturnation versus französische Staatsnation? Eine<br />

ideengeschichtliche Stichprobe“, in: Helmut Berding (Hrsg.), Nationales Bewußtsein <strong>und</strong> kollektive Identität.<br />

Stu<strong>die</strong>n zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994, S.<br />

112 – 162, hier 160.<br />

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