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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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Es gibt ein anderes theologisches Modell, nach dem Gott in der Lebenswelt vom<br />

Menschen überhaupt nicht erkannt werden kann. In <strong>die</strong>sem Fall kann der Mensch nur „<strong>die</strong><br />

unerträgliche Nichtdarstellbarkeit der Wahrheit Gottes“ 1 bezeugen. <strong>Die</strong>ses Modell heißt<br />

negative Theologie.<br />

<strong>Martin</strong> Walser geht – wieder mit Nietzsche – noch einen Schritt weiter hinter <strong>die</strong> negative<br />

Theologie, er erklärt Gott für tot. <strong>Die</strong> „Nichtdarstellbarkeit der Wahrheit Gottes“ ist dann<br />

nicht, wie Gerhart von Graevenitz für <strong>die</strong> Moderne der ´mittleren Romantik´ feststellt,<br />

„unerträglich[]“, denn <strong>die</strong> Wahrheit Gottes gibt es nicht mehr. Walser reflektiert auch <strong>die</strong><br />

semiotischen Implikationen der Abschaffung Gottes. Mit Jacques Derrida <strong>und</strong> Bettine Menke<br />

könnte man sagen, er betrachtet das „Spiel[] der Sprache“ nicht als „Verlust von Wahrheit“,<br />

sondern als „Überfluß“, als „das immer schon Zugr<strong>und</strong>eliegende“. 2 <strong>Die</strong> Sprache ist für Walser<br />

keine Re-Präsentation der ursprünglichen Präsenz, also <strong>die</strong> schlechthinnige Nicht-Präsenz.<br />

Vielmehr stellt er <strong>die</strong> Präsenz als Effekt der Sprache dar.<br />

G. wäre also das reinste Wort, das es gibt. <strong>Die</strong> pure Wortwörtlichkeit. Das vollkommene Sprachwesen. Das<br />

Sprachliche schlechthin. In G. käme also <strong>die</strong> Sprache zu sich. 3<br />

Wenn es Gott nicht gäbe, könnte man doch nicht sagen, daß es ihn nicht gebe. Es gibt das Wort. […] Das ist<br />

ein Gr<strong>und</strong>vermögen der Sprache, daß <strong>die</strong> Wörter wichtiger sind als <strong>die</strong> mit ihnen möglichen Operationen.<br />

Und das andere Gr<strong>und</strong>vermögen: Es macht nichts aus, daß es für etwas nichts gibt als das Wort. 4<br />

Wir dagegen möchten gern glauben, daß es das, was <strong>die</strong> Wörter nennen, gibt, bloß weil wir <strong>die</strong> Wörter dafür<br />

haben, anstatt daß wir uns endlich der Ansicht beugen: nur weil wir etwas nicht haben, haben wir <strong>die</strong> Wörter.<br />

Von Fre<strong>und</strong>schaft über Liebe bis zu Gott. 5<br />

Der Gott ist nach Walser nicht nur „angewiesen auf Bild, Ausdruck“, sondern „er selbst ist<br />

ganz <strong>und</strong> gar nichts als Ausdruck“. <strong>Die</strong>ser Ausdruck entspringt „[u]nsere[m] Mangel“ 6 an<br />

genau dem, was er bezeichnet. Den Gott <strong>und</strong> jeglichen Sinn gibt es, weil sie (uns) fehlen.<br />

<strong>Die</strong>se Überlegungen variieren erkennbar <strong>die</strong> Vorstellung des Menschen als sich selbst<br />

helfenden Mängelwesens, das ´Stärke-aus-Schwäche-Prinzip´, das in der philosophischen<br />

Anthropologie von Johann Gottfried Herder bis Arnold Gehlen vertreten wurde. Sie liegen<br />

auch <strong>Walsers</strong> „Poetik des Mangels“ 7 (Volker Bohn) zugr<strong>und</strong>e. Der ständige menschliche<br />

Mangel an Sinn ist nach Walser der Motor der Sprachentwicklung. Für den Menschen ist der<br />

Mangel an Sinn der Lese- <strong>und</strong> Schreibimpuls schlechthin.<br />

Indem <strong>die</strong> Sprache auf das Schlimmste antwortet, hebt sie es auf. 8<br />

1<br />

ders., „Contextio <strong>und</strong> conjointure, Gewebe <strong>und</strong> Arabeske. Über Zusammenhänge mittelalterlicher <strong>und</strong><br />

romantischer Literaturtheorie“, in: Walter Haug – Burghart Wachinger (Hrsg.), Literatur, Artes <strong>und</strong> Philosophie,<br />

Tübingen: Niemeyer, 1992, S. 229 – 257, hier 254.<br />

2<br />

Bettine Menke, „Dekonstruktion – Lektüre: Derrida literaturtheoretisch“, in: Klaus-Michael Bogdal (Hrsg.),<br />

Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1990, S. 235 – 264, hier 242.<br />

3<br />

<strong>Martin</strong> Walser, „Aus den Notizen betreffend G. (vom 6. 4. 1981 bis 6. 5. 1991)“, in: Werke XI, S. 974 – 979,<br />

hier 975.<br />

4<br />

Ders., „´<strong>Die</strong> Stimmung, das Wissen, <strong>die</strong> Sprache´“, in: Werke XII, S. 770 – 779, hier 770.<br />

5<br />

Ders., „<strong>Die</strong> Amerikareise“, in: Werke XI, S. 815 – 839, hier 825.<br />

6<br />

Ders., „´<strong>Die</strong> Stimmung, das Wissen, <strong>die</strong> Sprache´“, S. 770 <strong>und</strong> 774.<br />

7<br />

Vgl. Volker Bohn, „Poetiken des Mangels. Zu <strong>Martin</strong> Walser <strong>und</strong> Peter Rühmkorf“, in: Horst <strong>Die</strong>ter Schlosser<br />

– Hans <strong>Die</strong>ter Zimmermann (Hrsg.), Poetik. Essays über Ingeborg Bachmann, […] <strong>und</strong> andere Beiträge zu den<br />

Frankfurter Poetik-Vorlesungen, Frankfurt am Main: Athenäum, 1988, S. 161 – 170.<br />

8<br />

<strong>Martin</strong> Walser, „Der unterirdische Himmel“, in: Werke XI, S. 647 – 653, hier 647.<br />

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