21.01.2013 Aufrufe

Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Legitimität <strong>und</strong> <strong>die</strong> Legalität nicht deckungsgleich sind, kann das zwei Gründe haben:<br />

fehlende Identität von Gesetzgeber <strong>und</strong> Legitimitätsquelle oder fehlende Jeweiligkeit, also<br />

Obsoletheit des geltenden Rechts. Vor allem der juridische Diskurs der späten Weimarer<br />

Republik war der Ort, an dem über das Herleitungsverhältnis der Legitimität <strong>und</strong> Legalität<br />

intensiv diskutiert wurde. Das Webersche Argument, daß <strong>die</strong> Legitimität <strong>die</strong> Quelle der<br />

Legalität sein soll <strong>und</strong> nicht umgekehrt, wurde dabei allerdings oft bis zur Ablehnung des<br />

Weimarer Rechtsstaats radikalisiert. <strong>Die</strong>se hat man damit begründet, daß der Rechtsstaat den<br />

lebendigen Geist des Volkes dem starren Buchstaben des Gesetzes unterwerfe. Carl Schmitts<br />

Schriften der frühen 30er Jahre, z. B. Legalität <strong>und</strong> Legitimität (1932), ließen sich als Beispiel<br />

<strong>die</strong>ser Begründungsstrategie anführen. In ihr läßt sich <strong>die</strong> alte augustinische Unterscheidung<br />

zwischen dem Geist <strong>und</strong> dem Buchstaben unschwer erkennen, <strong>die</strong> auch allen Spielarten der<br />

Hermeneutik zugr<strong>und</strong>eliegt. Eine Variante <strong>die</strong>ser Dichotomie bildet <strong>die</strong> Differenzierung der<br />

paulinisch-lutherischen Theologie zwischen dem jüdischen, alttestamentlichen Gesetz <strong>und</strong> der<br />

christlichen, neutestamentlichen Gnade. <strong>Die</strong> Gnade vollzieht das Wort des lebendigen Gottes,<br />

das Gesetz unterwirft den Menschen erstrarrten, abstrakten Glaubensprinzipien.<br />

Wenn Wolf sich als illegal, aber nicht illegitim bezeichnet, zieht er damit gerade <strong>die</strong>se<br />

Denkfigur protestantischer politischer Theologie heran <strong>und</strong> instrumentalisiert sie in ähnlicher<br />

Weise wie <strong>die</strong> nationalkonservative Kritik der späten Weimarer Republik. Aus dem F<strong>und</strong>us<br />

protestantischer politischer Theologie wird aber auch geschöpft, wenn Dr. Bestenhorn Wolf<br />

bescheinigt, in seinen politischen Handlungen nur seinem Gewissen gefolgt zu sein. Damit<br />

bringt er <strong>die</strong> Vorstellung eines Gewissens ins Spiel, das von den normativen Vorgaben seiner<br />

Lebenswelt sich radikal abkoppelt (siehe das Kapitel 1.1.4.).<br />

Der Chiasmus Legitimität/Legalität wird fortgeschrieben, wenn Wolf den legalen<br />

Formalismus des Richters unverständlich findet, der „überhaupt nichts gelten [läßt] als das<br />

geschriebene Gesetz <strong>die</strong>ser Republik“ (S. 167). Nachdem Wolf eine überraschend hohe<br />

Freiheitsstrafe bekommen hat, wird seine psychische Lage so charakterisiert:<br />

Wolf konnte vorerst nur nachbuchstabieren, was geschehen war. Begreifen konnte er nichts. <strong>Die</strong>ses ruhige<br />

Einvernehmen mit seinem Staat. Ein deutscher Richter. Wolf würde das sofort verstehen bei einem<br />

französischen, bei einem schwedischen, bei einem italienischen Richter. Aber in Deutschland … […] Ein<br />

deutscher Richter … (S. 175)<br />

Um Wolfs Klage über den „deutsche[n] Richter“ verstehen zu können, müssen wir den<br />

Kontext darstellen, in den sie eingebettet ist. In einer Kneipe bekommt Wolf unwillkürlich<br />

mit, wie ein Herr Stavenhagen dazu gedrängt wird, seine „ausgezeichneten<br />

Russischkenntnisse“ (S. 47) zu erklären. Stavenhagen ist „Jahrgang ein<strong>und</strong>dreißig“, kam<br />

gegen Ende des Krieges „zum Werwolf <strong>und</strong> wurde in den Einsatz geschmissen“ (S. 46). Dann<br />

lief er „zu den Russen“ über (S. 46). Stavenhagen kann seine Lebensgeschichte nicht zu Ende<br />

erzählen. Aber es hat den Anschein, daß er mit dem Feind kolaboriert <strong>und</strong> dabei seine Sprache<br />

gelernt hat. Zu seiner Selbstrechtfertigung benutzt Stavenhagen auch Helmut Kohls Wort von<br />

der „Gnade der späten Geburt“ (S. 46). Kohl bezog sich mit <strong>die</strong>sem Diktum bekanntlich auf<br />

den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger, der 1978 von seinem<br />

Posten zurücktreten mußte, als durch Rolf Hochhuths Roman Eine Liebe in Deutschland 1<br />

seine richterliche Tätigkeit in der NS-Zeit öffentlich bekannt wurde. Zu seiner Rechtfertigung<br />

behauptete Filbinger über <strong>die</strong> NS-Richter „that those involved were only carrying out the law<br />

1 Rolf Hochhuth, Eine Liebe in Deutschland, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1978.<br />

110

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!