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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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statt sie in der Struktur der Darstellung aufzuheben. In einem 1977 gegebenen Interview<br />

verriet Walser:<br />

Aber man schreibt so ein Buch dann auch zu einer bestimmten Zeit, in einer bestimmten Zeit, <strong>und</strong> das ist<br />

jetzt. Ich weiß auch noch nicht, wie man das am besten lösen soll. Ich habe nun in verschiedenen Zeiten, bei<br />

verschiedenen Büchern bemerkt, daß es immer einen Kampf gibt zwischen der lange gewachsenen Tendenz<br />

<strong>und</strong> Thematik <strong>und</strong> der Notwendigkeit, ein solches Buch zu schreiben <strong>und</strong> <strong>die</strong>ses Buch dann unter einer ganz<br />

bestimmten aktuellen Konstellation als Zeitgenosse des Jahres sowieso zu schreiben. Und das gerät sich da<br />

eigenartigerweise in <strong>die</strong> Quere. […] Das ist aber ein altes Leiden bei mir, muß ich sagen. 1<br />

3. 5. <strong>Die</strong> Zusammenfassung<br />

<strong>Martin</strong> <strong>Walsers</strong> Roman <strong>Die</strong> Verteidigung der Kindheit enthält zwei Ebenen fiktionaler<br />

poetologischer Selbstbeschreibung, <strong>die</strong> ihn als ars oblivionalis <strong>und</strong> zugleich als ars<br />

memorandi ausweisen. <strong>Die</strong> „alte Romanforderung des ´So ist es´“ wird zugleich<br />

fallengelassen <strong>und</strong> bekräftigt. In <strong>die</strong>sem Zugleich besteht der unauflösliche Selbstwiderspruch<br />

des Romans, den seine Komposition nicht mehr zu reflektieren scheint.<br />

Unter fiktionaler poetologischer Selbstbeschreibung wird hier ´gedichtete<br />

Dichtungstheorie´ verstanden. <strong>Die</strong>se Dichtungstheorie thematisiert das Verhältnis der<br />

<strong>die</strong>getischen Welt zum Darzustellenden; sie tut <strong>die</strong>s aber nicht im theoretischen Diskurs,<br />

sondern in der gedichteten <strong>die</strong>getischen Welt selbst. Unter der ars oblivionalis wird <strong>die</strong><br />

„<strong>Die</strong>gesis der Unerzählbarkeit“ wirklicher Lebensgeschichte(n) verstanden, also <strong>die</strong><br />

Darstellung der Ohnmacht der Erzählung, <strong>die</strong>se Lebensgeschichte(n) beim Namen zu rufen.<br />

Unter der ars memorandi schließlich wird <strong>die</strong> Kunst verstanden, <strong>die</strong> Leserin davon zu<br />

überzeugen, daß der Roman <strong>die</strong> Vergangenheit wirklichskeitstreu darstellen kann.<br />

<strong>Die</strong> ars oblivionalis <strong>und</strong> <strong>die</strong> ars memorandi werden aber an verschiedenen<br />

Erzählgegenständen vorgeführt. Für unsere Untersuchung der <strong>Walsers</strong>chen <strong>Konstruktion</strong> der<br />

deutschen nationalen Identität ist maßgeblich, <strong>die</strong>se Erzählgegenstände zu identifizieren. <strong>Die</strong><br />

jüdischen Leidensgeschichten werden in dem Roman als Erzählkonstrukte kenntlich gemacht,<br />

<strong>die</strong> mit der <strong>und</strong>arstellbaren Wirklichkeit <strong>die</strong>ses Leidens nichts zu tun haben. Im Erzählen<br />

jüdischer Leidengeschichte(n) wird – mit Wolfgang Iser zu reden – ein Imaginäres geborgen,<br />

das mit dem Realen nicht kurzgeschlossen werden sollte.<br />

Auf das Erzählen deutscher Leidengeschichte(n) trifft <strong>die</strong>s nicht zu. Der Erzähler benutzt<br />

verschiedene Strategien, um seine Erzählung über Alfred Dorn <strong>und</strong> <strong>die</strong> deutschen<br />

Nebenfiguren als dokumentarisch verbürgt auszuweisen. Eine literarisch versierte Nebenfigur<br />

läßt er den Stil-Manier-Diskurs der deutschen idealistischen Philosophie rekapitulieren,<br />

dessen identitätsphilosophische Prämissen eine ´realistische´ Darstellung als möglich<br />

erscheinen lassen. Der referenzielle Anspruch wird durch den Detailrealismus der Darstellung<br />

eingelöst. <strong>Die</strong>ser Detailrealismus erlaubt es dem Suhrkamp-Verlag, den Roman auf seinem<br />

Einband als „von Realität durchdrungen[es]“ „deutsches Epos“ anzupreisen.<br />

<strong>Die</strong> Verteidigung der Kindheit bekennt sich somit emphatisch zu der „Funktion der<br />

Literatur als gesellschaftliches Gedächtnis“ 2 . Das kollektive deutsche Gedächtnis, das in<br />

1 Ulrike Hick, „Anhang: Gespräch der Verfasserin mit <strong>Martin</strong> Walser am 4. 5. 1977 in Hannover“, in: <strong>die</strong>s.,<br />

<strong>Martin</strong> <strong>Walsers</strong> Prosa. Möglichkeiten des zeitgenössischen Romans unter Berücksichtigung des<br />

Realismusanspruchs, Stuttgart: Akademischer Verlag Hans-<strong>Die</strong>ter Heinz, 1983, S. 289 – 303, hier 296.<br />

2 Yoshitaka Toyama, „Vergangenheitsbewältigung <strong>und</strong> Vergangenheitsbewahrung bei <strong>Martin</strong> Walser“, in:<br />

Japanische Gesellschaft für Germanistik (Hrsg.), Sprachprobleme <strong>und</strong> ästhetische Produktivität in der<br />

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