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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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aussehender Bonvivant <strong>und</strong> Frauenschwarm, im völligen Gegensatz zu Alfred „an nichts<br />

mehr als an Gegenwart interessiert“ (S. 88). Alfred sieht sich nicht imstande, seine eigene<br />

Lebensgeschichte Weiler verständlich zu machen. Noch versucht er, sich in Weiler<br />

einzufühlen. <strong>Die</strong> intern fokalisierte Erzählform der Verteidigung ermöglicht es dem Erzähler,<br />

Alfreds Perspektive unangefochten zu lassen.<br />

Also, mit wem war Alfred neulich im Konzert? Und in welchem Konzert? Allein. Furtwängler. Nein, rief<br />

Weiler, nein, nein, nein. Zu Hitlers Kappellmeister! Herr Dorn! Auch Sie! Alfred konnte nichts sagen. Schon<br />

gar nicht, wie wohl er sich gefühlt hatte während <strong>die</strong>ses Konzerts. […] Wie sollte er denn seinen<br />

Konzerteindruck verteidigen gegen George Weilers Vorwurf? Er mußte Weilers Vorwurf <strong>und</strong> den<br />

Konzerteindruck bestehen lassen. Unvermittelt. Ein weiterer Widerspruch. Niemand dirigiert für Hitler. Das<br />

konnte er nicht aussprechen. (S. 88 <strong>und</strong> 90)<br />

Er müßte <strong>die</strong> Gelegenheit haben, Weiler alles mitzuteilen, was er über das Verhältnis seiner Vaters <strong>und</strong> seiner<br />

Mutter zu Juden wußte. […] Irgendwann war es nicht mehr möglich gewesen, daß ein Mädchen mit einem<br />

jüdischen Vater in der Praxis half. Herr Dorn ist in <strong>die</strong> Partei eingetreten, um sich besser wehren zu können.<br />

<strong>Die</strong> Mutter, <strong>die</strong> dem Nationalsozialismus nicht verzieh, daß er ihre Christian Science sofort verboten hatte,<br />

hat verlangt, daß Wiltrud bleibe. Vaters Fre<strong>und</strong>in Liesel Roitzsch, <strong>die</strong> Frauenschaftsführerin, hat ihn<br />

terrorisiert. […] All das konnte man Weiler nicht anbieten. (S. 151 – 153)<br />

<strong>Die</strong> Unvermittelbarkeit beider Erfahrungsperspektiven rührt daher, daß das jüdische<br />

Opfergedächtnis sich von dem deutschen inhaltlich unterscheidet. Und auch zeitlich klafft<br />

zwischen dem deutschen <strong>und</strong> dem jüdischen Leiden eine Lücke: wenn es vielen Deutschen<br />

schlecht geht, geht es Juden wie Dr. Halbedel <strong>und</strong> George Weiler wieder gut. <strong>Die</strong> Deutschen<br />

leiden nicht unter der rassistischen Persekution, sondern unter dem alliierten Bombenterror,<br />

den „Obernazi[s]“ (S. 507) <strong>und</strong> später unter Kriegsverletzungen (S. 79) <strong>und</strong> den Folgen der<br />

deutschen Teilung (siehe das Kapitel 3.4.2.). Sie werden hingerichtet, wenn sie Widerstand<br />

leisten (S. 238 <strong>und</strong> 402). Wenn man von Ausnahmen absieht wie der „Frauenschaftsführerin“<br />

(S. 152) Roitzsch oder dem „Obernazi Dr. Krumpholz“ (S. 507), ist das Verhältnis der<br />

Deutschen zu den Juden selbst im Dritten Reich hauptsächlich von Hilfsbereitschaft geprägt.<br />

Nach dem Ansbacher Treffen der ehemaligen Dresdner Klassenkameraden w<strong>und</strong>ert sich<br />

Alfred, warum<br />

den ganzen Abend nicht darüber gesprochen worden [war], daß Gurlitt durch <strong>die</strong> Mitwirkung aller <strong>die</strong> Schule<br />

nicht verlassen mußte, obwohl seine Mutter Jüdin war? (S. 507)<br />

Durch <strong>die</strong> Erzählung über Dr. Halbedels Rettung <strong>und</strong> über Alfreds Konfrontation mit George<br />

Weiler streicht der Roman <strong>die</strong> unterschiedlichen Inhalte des deutschen <strong>und</strong> des jüdischen<br />

Opfergedächtnisses heraus. Zugleich versucht er, das deutsche Opfergedächtnis dem<br />

jüdischen strukturanalog zu machen. <strong>Die</strong> „Vize-Oma“ vergleicht <strong>die</strong> Ostdeutschen einmal<br />

direkt mit den „Gefangenen Zions“ (S. 33; kursiv im Original). Das deutsche Leiden, das in<br />

dem Roman <strong>Die</strong> Verteidigung der Kindheit geschildert wird, ist genauso wenig<br />

selbstverursacht oder selbstverschuldet wie das jüdische. Schuld erscheinen <strong>die</strong> Anderen –<br />

einmal <strong>die</strong> Nazis, ein anderes Mal <strong>die</strong> alliierten Siegermächte.<br />

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