21.01.2013 Aufrufe

Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Jahre vollends deutlich werden. Zum Vergleich werden dabei solche literarischen<br />

Erinnerungen herangezogen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Deutungsfähigkeit visueller Überlieferung thematisieren.<br />

Damit tun sie nämlich gerade das, was <strong>die</strong> Verteidigung unterläßt.<br />

Wir können mit der Erinnerung an Growing Up in Nazi Berlin anfangen, für <strong>die</strong> ihr Autor,<br />

der amerikanische Historiker Peter Gay, 1999 in München den Geschwister-Scholl-Preis<br />

erhielt. Gay entstammt einer deutsch-jüdischen Familie, der es gelang, kurz vor dem Anfang<br />

des Zweiten Weltkriegs aus Deutschland auszuwandern. Der Erzählung über seine Kindheit<br />

im Berlin der 30er Jahre legt Gay viele Photos bei. Aber er warnt davor, <strong>die</strong>se Photos als<br />

authentische Zeugnisse zu verstehen, <strong>die</strong> das Gewesene in seiner wirklichen Gestalt faßbar<br />

machen können.<br />

[…] in that photo […] [t]wo other classmates stand out: […] and, standing with his arm on my shoulder in a<br />

comradely gesture, the ash-blond Hans Schmidt. This shows how photographs lie. May his bones lie rotting<br />

in Russian soil! 1<br />

Monika Maron bringt in ihrer Familiengeschichte, <strong>die</strong> im Haupttitel Pawels Briefe heißt, „der<br />

Möglichkeit des Erinnerns“ ein „tiefes Mißtrauen“ entgegen. 2 Mit gleichem Mißtrauen scheint<br />

sie dem me<strong>die</strong>ngestützten Erinnern zu begegnen. Ihr Buch druckt viele Photos, <strong>die</strong> das<br />

Schicksal ihrer jüdischen Vorfahren im Dritten Reich dokumentieren sollen, im Kleinformat<br />

nach. Aber <strong>die</strong>ser Nachdruck wird von den Reflexionen darüber begleitet, wie <strong>die</strong> mediale<br />

Form der Bilder <strong>die</strong> Vorstellung vom Abgebildeten beeinflußt.<br />

Das Bild, das ich mir von meinen Großeltern mache, ist schwarzweiß wie <strong>die</strong> Fotografien, von denen ich sie<br />

kenne. […] Wenn Hella von den Abenden in der elterlichen Wohnküche erzählt, sehe ich meine Großeltern<br />

schwarzweiß zwischen ihren farbigen Kindern sitzen. Nur Bruno, den ich auch von Fotos kenne, ist ebenso<br />

schwarzweiß. 3<br />

Wulf Kirsten, den Walser mit seiner Rede Über Deutschland auf dem westdeutschen<br />

Literaturmarkt „eingeführt“ haben will, 4 hat <strong>die</strong> Erinnerungen an seine Dorfkindheit im<br />

Dritten Reich unter dem Titel <strong>Die</strong> Prinzessinnen im Krautgarten veröffentlicht. <strong>Die</strong> „ihr<br />

Schindluder“ 5 treibende Erinnerung setzt er dabei gerade mit der notorischen Unfähigkeit der<br />

Photographie, <strong>die</strong> Wirklichkeit abzubilden, in Vergleich.<br />

Von der selbsttätigen Erinnerung wird der abgelegte frühe Lebensabschnitt so lange gedreht <strong>und</strong> gewendet,<br />

bis ein Abbild entstanden ist, im Postkartenformat. Retuschierte Lebensbilder, mosaikartig zueinander so in<br />

Beziehung gesetzt, als ergäbe sich daraus ein in sich stimmiges Ganzes. […] Denn es gibt neben scharf<br />

belichteten Stellen schwarze Flächen. Der Erinnerungsfilm gar nicht oder nicht richtig belichtet, gerissen<br />

oder sonstwie defekt. Ein irreparabler Schaden. 6<br />

<strong>Die</strong> einzige literarisch gebildete Gestalt des Romans ist Alfreds „Vize-Oma“ (S. 32) Dr.<br />

Goelz (S. 68 <strong>und</strong> 219). Und gerade sie läßt der Erzähler über das „Problem der romanhaften<br />

Darstellung von Menschen, <strong>die</strong> wirklich gelebt haben“ (S. 219), reflektieren.<br />

1<br />

Peter Gay, My German Question. Growing Up in Nazi Berlin, New Haven/London: Yale University Press,<br />

1998, S. 61f.<br />

2<br />

Barbara Schmitz-Burckhardt, „<strong>Die</strong> Unschuld des Vergessens. Monika Maron fragt in ´Pawels Briefe´ nach<br />

einer verdrängten Vergangenheit“, in: Frankfurter R<strong>und</strong>schau, 24. 3. 1999, S. 12.<br />

3<br />

Monika Maron, Pawels Briefe. Eine Familiengeschichte, Frankfurt am Main: Fischer, 1999, S. 18.<br />

4<br />

<strong>Martin</strong> Walser im Gespräch mit dem Verf.<br />

5<br />

Wulf Kirsten, <strong>Die</strong> Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit, Zürich: Ammann, 2000, S. 74.<br />

6 Ibidem, S. 50 <strong>und</strong> 149.<br />

132

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!